Dehnübungen im Palast

Die Kleidervorschrift für den Besuch des Kumsusan Palast der Sonne ist sehr streng: Männer müssen ein Hemd und eine Krawatte tragen, dunkle Hosen (keine Jeans) und dunkle Schuhe. Ich soll entweder einen zumindest knielangen Rock, ein Kleid oder eine lange Stoffhose anziehen. Die Bluse muss die Schultern bedecken (einfach einen Schal darüber zu legen, reicht nicht aus). Dazu soll ich mir Schuhe aussuchen, die die Zehen bedecken. Turnschuhe – das versteht sich von selbst, sind nicht erwünscht. 

Da unser Rucksack jedoch nicht den Inhalt eines begehbaren Kleiderschranks hervorzaubern kann und wir in Nordkorea nicht einfach so shoppen gehen können, besorgten wir uns die fehlende Krawatte für Micha und ein paar geschlossene Schuhe für mich noch in Peking.

Hübsch verpackt und rausgeputzt wie schon lange nicht mehr, starten wir früh in den Tag. In unserem Bus auf dem Weg zum Mausoleum werden wir von unseren Guides erneut über den Ablauf des Besuchs informiert. Denn nicht nur die Kleidervorschriften sind streng, auch das Verhalten vor Ort ist klar geregelt und darf auf keinen Fall abweichen. Zur Sicherheit bekommen wir die Anweisungen ebenfalls auf Papier ausgehändigt. Aha – da ist er wieder –  einer der Momente, in denen wir uns als Paar besser kennenlernen. Jetzt wissen wir, wer von uns beiden in Zukunft die Beipackzettel von Medikamenten und die Gebrauchsanweisung von neuen elektronischen Geräten lesen wird. Während ich mich pflichtbewusst durch die zwei A4-Seiten Anweisungen auf Englisch durcharbeite, vertraut Micha auf das gesprochene Wort und lässt es dabei bewenden – oder: Am Arsch vorbei führt auch ein Weg.

Der Bus lässt uns an einem grossen Parkplatz raus. Zu unserem Erstaunen heißt es nicht „Balliballi“, sondern „bitte warten“. Alle momentanen Nordkorea-Touristen haben ihren Besichtigungstermin auch heute. Es ist Reisegruppen aus dem Ausland nur Donnerstag- und Sonntagvormittag erlaubt, die Anlage zu besichtigen. Es kommen noch viele weitere Busse an.

Während wir hier so stehen und warten, beobachte ich die anderen Touristen. Ich höre viel Englisch, etwas Deutsch und Russisch durcheinanderreden. Fast alle sind den Anweisungen entsprechend gekleidet. Doch irgendetwas ist anders als sonst. Aber was? Schnell fällt mir auf, dass hier eine Sprache in dem Hintergrundrauschen fehlt. Haben wir sonst überall auch grosse Reisegruppen mit chinesischen Touristen gesehen, so fehlen diese hier komplett. Ich frage unseren Reiseleiter und dieser muss sofort schmunzeln. Ich bin nicht die erste, die nach den Gästen aus dem Nachbarland fragt. Unter vorgehaltener Hand sagt er uns, dass es den Chinesen sehr schwer fällt, sich an die bestehenden strengen Kleider- und Verhaltensvorschriften zu halten und sie deshalb hier von höchster Ebene angeordnet unerwünscht sind.

Nach dem Besuch im Inneren dürfen wir noch schnell ein Foto vor dem Palast machen.

Der ehemalige Amtssitz des „ewigen Präsidenten“ Kim Il Sung ist heute seine Ruhestätte, ebenso die seines Sohnes Kim Jong Il. Es ist das größte bestehende Mausoleum, das einem kommunistischen Machthaber gewidmet ist. Das Fotografieren im Inneren des Gebäudes ist strengstens verboten. Die Artikel-Bilder, die wir verwenden, sind Screenshots aus diesem Video vom staatlichen Fernsehen. Es zeigt den Besuch des amtierenden Machthabers Kim Jong Un und ist schon allein aufgrund der euphorischen Nachrichtensprecherin in den ersten 30 Sekunden sehenswert. Kim III nimmt in der Reportage die gleiche Route wie wir.

Nachdem wir alle vollständig sind, geht es los: Aufstellung in einer 4-er Reihe bis alle untergebracht sind. Wir setzen uns in Bewegung.  Ab den ersten mehr oder weniger synchronen Schritten herrscht Redeverbot. Wir sollen darauf achten, immer auf der gleichen Höhe zu gehen, wie die anderen drei Personen aus unserer 4-er Gruppe – gar nicht so einfach. Wann bin ich das letzte Mal im Gleichschritt gelaufen? War das in meiner Grashüpfergruppe im Kindergarten? Den einheimischen Besuchern, die weit vor uns gehen, fällt diese Art der Fortbewegung sichtlich leichter.

Nach dem Besuch lockern sich die Reihen wieder.

Bald erreichen wir eine Halle, der eigentliche Eingang zu dem Palast. Hier müssen wir nochmals warten und uns neu formieren. Eine 2-er Gruppe ist jetzt zu bilden. Die Koreaner, die eben noch vor uns liefen, warten auch. Ich nutze den Moment, um sie genauer anzuschauen. Von weitem erkannte ich, dass die Frauen fast alle traditionelle Kleider und die Männer alle einen Anzug tragen. Jetzt kann ich ihre Gesichter näher betrachten. Ich sehe Menschen, die gezeichnet sind vom Leben auf dem Land,  von körperlich schwerer Arbeit. Vor allem die Männer sehen dünn, fast dürr aus, ihre großen schwieligen Hände verraten, das ihr Alltag nicht aus Home-Office besteht. Die Haut ist rau und gezeichnet von den vielen Tagen unter freiem Himmel. Seltsam, das gerade dieser Teint in unseren Breitengraden als verwegen, heldenhaft männlich missdeutet wird. Jetzt erkenne ich auch den sehr schlechten Zustand ihrer Anzüge. Waren die Koreaner, die wir im Zentrum von Pjöngjang gesehen haben, ziemlich gut gekleidet, so fällt es hier auf, dass diese Besucher wohl nicht zu den privilegierten Hauptstadtmenschen gehören. Wahrscheinlich schaue ich jetzt in das wahre Gesicht von Nordkorea. Was ist wohl die Lebensgeschichte jedes Einzelnen? 

Mein Gedankengang wird unterbrochen, denn wir müssen weiter. Wir passieren einige Kontrollen, biegen erst links, dann wieder rechts ab. Bald stehen wir auf einem Fahrsteig, wie man ihn vom Flughafen kennt, um große Distanzen schneller zu überbrücken. Links von uns befindet sich eine weiße Mauer mit eingravierten fliegenden Kranichen. Davor wurden Weinreben gepflanzt, alle stehen im gleichen Abstand zueinander. An der Decke sind Lautsprecher angebracht, sie beschallen uns in Dauerschleife mit der getragenen Sinfonie, die zum Tode des „ewigen Präsidenten“ Kim Il Sung extra komponiert wurde. Sie erfüllt ihren Zweck – ich werde traurig. Aber nicht über den Tod des Herrschers, sondern über das offensichtlich schwere Los der Menschen, die hier leben und nun vor mir auf dem Rollfeld stehen.

Es vergeht eine Ewigkeit, bis wir das Ende dieses Flurs erreichen. Dann geht es erneut durch meterhohe Türen, weiter nach unten – wie in eine Gruft, nur besser ausgeleuchtet. Wir scheinen einen neuen Gebäudeabschnitt erreicht zu haben. Wieder müssen wir uns von einer flachen Rolltreppe im Zeitlupentempo chauffieren lassen. Diese Dinger wären in Flughäfen ganz klar ein No Go – viel zu langsam. Hier allerdings sollen die Besucher den Moment bewusst erleben, um die beidseitig hängenden Gemälde bewundern zu können. Sie zeigen den verstorbenen Vater und den Grossvater des aktuellen Alleinherrschers in gewohnt strahlend-visionären Posen. Links Kim I bei der feierlichen Eröffnung einer Fabrik, rechts Kim II bei der Bewunderung frisch geernteter Kartoffeln. Es sind bestimmt 50 Bilder von jedem – alle zeigen ähnliche Motive, alle haben dieselbe Grösse, alle umgibt ein goldener Rahmen. Sie sind im exakt gleichen Abstand zueinander aufgereiht. 

Der Grosspapa ganz entspannt mit Zigarettchen.

Dann stehen wir endlich vor der ersten Besucherhalle. Wie war die Instruktion doch gleich? Richtig, nun ist wieder eine 4-er Gruppe zu bilden. Langsam im Gleichschritt sollen wir vorwärts gehen, bis zu einer weissen Linie auf dem Boden, dort sollen wir stehen bleiben. Wir gleiten durch einen riesigen in goldener Farbe gehaltenen Raum, voller Marmor, perfekt poliert, überall stehen Säulen, es ist sehr hell. Unseren Blick haben wir auf die zwei übergrossen Wachsfiguren von Kim Il Sung und Kim Jong Il gerichtet. Micha läuft in der 4-er Gruppe vor mir. Ich sehe, wie er und sein Nachbar die weisse Grenzlinie marginal übertreten. Mein Herz reagiert sofort mit erhöhtem Pulsschlag – ich habe Angst, dass dieser Fauxpas von den Soldaten registriert und abgemahnt wird. Zum Glück reagiert der andere Nachbar und weisst die beiden Delinquenten flüsternd darauf hin. Die Soldaten haben wohl nichts gemerkt. Keine Ahnung, welche Auswirkungen so ein Grenzübertritt haben könnte – aber ich finde, mein Mann sollten es nicht austesten.

Vor den Wachsstatuen müssen wir uns das erste Mal verneigen. Eine 90-Grad Verbeugung wurde uns empfohlen. Die Hände sollen dabei entweder vor dem Körper gefaltet werden oder gerade an der Hüfte anliegen. Sie hinter dem Rücken zu halten, gilt als Beleidigung der Wachsfiguren. Nach der langsam ausgeführten Gruppenverbeugung geht es aus dem Raum heraus. Mein Herz hat sich mittlerweile auch wieder beruhigt. Wir stehen im Vorraum des Mausoleums von Kim Il Sung. Der Guide erinnert uns an den Ablauf der nächsten zwei Minuten:  Als 4-er Gruppe sollen wir vor den Sarg treten, vor den Füssen des Verstorbenen stehen bleiben (auch hier gibt es kleine Punkte am Boden, die dem Besucher den genauen Platz für die Verbeugung anzeigen), innehalten und uns dann langsam verneigen. Das gemeinsame Verbeugen fällt meiner Gruppe erstaunlich leicht. Obwohl wir nicht verbal miteinander kommunizieren und nebeneinander stehen, spüren wir als Gemeinschaft, wann wir mit dem Oberkörper nach unten gehen und wann wir uns gemeinsam wieder aufrichten. Dann geht es im Uhrzeigersinn weiter um den Sarg herum. Wir bleiben vor der linken Seite stehen und verneigen uns erneut. Jetzt müssen wir uns konzentrieren, denn nun kommt eine Ausnahme: am Kopfende dürfen wir nicht pausieren und uns auf keinen Fall vor dem Haupt des Aufgebetteten verneigen (ihr ahnt es: es gilt als Beleidigung). Also schleichen wir diszipliniert weiter zur rechten Seite, stoppen und genau: verneigen uns ein drittes Mal. Das Verbeugen vor dem Diktator ist übrigens Pflicht. Wir wussten im Vorfeld, dass dies hier von uns verlangt wird. Diejenigen, die sich nicht vor den Verstorbenen verneigen möchten, hätten heute Morgen im Hotel bleiben können. Aus unserer Gruppe sind alle mitgekommen. Ich betrachte die Verbeugung als Dehnübung für meine hintere Oberschenkelmuskulatur. 

Von dem Parteiführer selbst sehe ich kaum etwas. Ich bin so auf das korrekte Ausführen des Rituals konzentriert, dass ich keine Details des Toten wahrnehme. Zudem ist das Licht in diesem Raum sehr gedämmt. Mir fällt jedoch auf, dass in jeder Ecke ein Soldat in voller Montur stramm steht.

Wir verlassen den Bereich und gehen nun durch den Museumsteil dieser Etage. Allerhand Ehrendoktortitel von Kim Il Sung (Kim I) und Gastgeschenke befreundeter Staaten werden zur Schau gestellt. Dann treten wir in eine riesige Ausstellungshalle und bekommen zunächst die konkrete Reiseroute von diversen Staatsbesuchen erklärt. Die Limousinen, der private Eisenbahnwaggon und sogar die Yacht von Kim I sind hier ausgestellt. Ein Dienstfahrrad suche ich vergebens.

Danach gehen wir als Gruppe geschlossen eine Ebene höher zum Mausoleum von Kim Jong Il (Kim II ). Noch einmal treten wir vor einen offenen Sarg, machen unsere Dehnübungen an den drei Seiten und werden im Anschluss zu den Auszeichnungen, Medaillen und Dienstfahrzeugen des „Ewigen Generalsekretärs“ geführt. 

Das grosse Gebäude, die exakt vorgegebene Prozedur und die hier herrschende angespannte Stimmung machen den Besuch anstrengend für mich. Ich bin froh, dass ich nun wieder auf dem Fahrsteig stehe und mich von diesem langsam zurückfahren lasse. Das Band auf der anderen Seite befördert die koreanischen Besucher, die ihren Rundgang noch vor sich haben. Ich betrachte sie, schaue sie direkt an, doch mein Blick wird nicht erwidert. Fast alle starren nach vorn oder nach unten. Ich sehe sie, sehe jeden Menschen, der sich langsam an mir vorbei bewegt. Jeder Einzelne ist wichtig, auch wenn die Rhetorik in diesem Land nur das Kollektiv kennt. Wieder frage ich mich bei Jedem, was wohl seine ganz persönliche Geschichte ist. Ich werde sie nie erfahren. Mit meinem Blick versuche ich dem Menschen, der gerade auf meiner Augenhöhe ist, Zuspruch zu schenken. Und in meiner Vorstellung verbeuge ich mich vor ihm. Diese gedankliche Verneigung meine ich ernst. Diese Verbeugung ist voller Aufrichtigkeit.  

Eine Antwort auf „Dehnübungen im Palast

  1. deingruenerdaumen

    Liebe Jana, mir gefällt Dein Interesse an den Menschen in Nordkorea und Deine Respektsbekundung ihnen gegenüber in Gedanken. So zu reisen verbindet. Ich mach das auch wenn ich Menschen begegne, deren (vermutetes ) Schicksal mich berührt. Liebe Grüße!

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