Über Illusionen

Gestern Abend war ich noch begeisterte Zuschauerin der Mass Games. Ich habe tausende junge Menschen bei ihrer akkurat ausgeführten Gymnastik beobachtet und war fasziniert von der uns dargebotenen Show. Wie der Name bereits sagt, es war ein Spektakel der Massen. Einzelne Menschen konnte ich nicht erkennen. Natürlich wusste ich, dass jeder einzelne Darsteller für diese exakte Synchronisierung der Bewegungen Höchstleistung vollbringen muss, doch ich blendete den Einzelnen in diesen Stunden aus. Ich bewunderte die Gemeinschaftsleistung und ich ließ mich mitreißen von dem Spektakel, der emotionalen Musik, der jubelnden Menge und der so geschaffenen Atmosphäre im Stadion.

Für die meisten Reisenden aus unserer Gruppe war es der letzte Abend in Nordkorea , doch Micha und ich entschieden uns bereits bei der Buchung für eine Verlängerungsnacht in Sinuiju. Die Grenzstadt zu China liegt auf unserem Rückweg und unser Reiseveranstalter bot jedem Zugreisenden, der sich noch ein weiteres Bild vom Land machen wollte, diesen zusätzlichen Zwischenstopp an.

Und so sitze ich heute erneut als Zuschauerin vor einer Gruppe von Artisten, die ebenso ihr Bestes geben. Auch heute staune ich über die präzise ausgeführten Bewegungen und die Synchronität der Gruppenmitglieder. Doch diesmal sitze ich viel näher an der Bühne und sehe die kleinen Künstler direkt vor mir. Die Protagonisten sind Kinder im Alter zwischen vier und etwa sieben Jahren. Ich schaue in geschminkte Gesichter mit weit aufgerissenen Augen und einem eindeutig künstlichem Lächeln. 

Heute sehe ich jeden Einzelnen. Ich sehe kleine, zierliche Körper, die in bunten Kostümen stecken. Vor mir singen, tanzen, turnen und musizieren Jungen und Mädchen eines, wie uns gesagt wurde, „ganz normalen Kindergartens“. 

Der Programmpunkt „Besichtigung eines Kindergartens“ ist eingebettet zwischen dem „Revolutionsmuseum“ und der „Kunstgalerie“. Ich war so naiv zu glauben, dass wir hier spielende Kinder besuchen würden. Kinder, die draußen im Sandkasten kleine Burgen bauen, herumtoben oder drinnen vielleicht etwas basteln würden. Ich stellte mir Szenen vor, die ich von meiner eigenen Kindergartenzeit kenne. Dass diese Einrichtung jedoch kein gewöhnlicher Kindergarten sein konnte, wird mir bereits auf dem Parkplatz mit voller Wucht bewusst. Vor dem grossen Gebäude gibt es einen noch grösseren betonierten Platz, der den riesigen Flächen vor europäischen Baumärkten sehr ähnlich sieht. Nur das in diesem Land kaum jemand ein Auto besitzt und der Platz demnach einzig für Touristenbusse angelegt wurde. Als wir ankommen strömen bereits mehrere Gruppen von chinesischen Besuchern auf den Haupteingang zu.

Wir werden in das Gebäude geführt und sollen gleich hinauf in den dritten Stock gehen, ins Auditorium. Ins Auditorium? Dieses Wort assoziiere ich mit einer Universität, nicht mit einem Kindergarten. „Oh je, wo bin ich hier?“, denke ich erneut. Ich schaue mich um, sehe aber keine Spur von spielenden Knirpsen. Einzig die bunt bemalten Wände und die darauf klebenden Comicfiguren erinnern an einen Kindergarten. Auf dem Weg nach oben versuche ich in die einzelnen Zimmer reinzuschauen, doch die Türen sind fast alle verschlossen. Nur aus einem Raum erklingt Musik, die Tür ist halb offen und ich kann ein kleines Mädchen und eine Erzieherin an einem Klavier sitzen sehen. Oben angekommen ist der Saal bereits gut gefüllt. Mehrere hundert Touristen aus dem großen Nachbarland sitzen bereits auf den Stühlen und warten, dass wir Europäer nun auch endlich Platz nehmen. Ich kann es kaum glauben, wir sind tatsächlich in einem Auditorium. Die Sitzreihen sind nach hinten steigend angeordnet, um von allen Plätzen eine gute Sicht auf die Bühne zu gewährleisten.

Als der Vorhang aufgeht, stürmen um die 50 Kinder auf die Bühne. Sie stellen sich auf, singen ein Lied und neigen dabei ihre Köpfchen im Gleichtakt nach Links und nach Rechts. Zum Schluss springen sie, jubeln und klatschen in die Hände. Das ist der Auftakt zu einer einstündigen Show.

Die Leistung der Kinder ist absolute Weltklasse, die ich sehr würdige und für die ich am Ende auch applaudiere. Ich kann es jedoch nur schwer aushalten, in die Gesichter der Jungen und Mädchen zu schauen. Sie wirken sehr steif, ihr Lächeln ist aufgesetzt und ihre Augen haben keinen Glanz. Diese Kleinen haben, außer ihrer Körpergröße, nichts Kindliches an sich. Welche Disziplin (und welchen Drill) braucht es, um in dem Alter so eine Leistung abrufen zu können?

Die jungen Bühnenkünstler machen während der gesamten Vorführung keinen einzigen Fehler. Sie jonglieren mit Fussbällen (ohne das auch nur ein Ball herunterfällt), spielen verschiedene Instrumente (ich höre keinen einzigen schiefen Ton) und sie hüpfen beim Seilspringen über mehrere Seile gleichzeitig (ohne sich dabei zu verheddern). 

Zwischen den akrobatischen Darbietungen wird auch immer wieder gesungen. Auf einmal stimmen die kleinen Nordkoreaner dem Anschein nach ein bekanntes chinesischen Volkslied (auf chinesisch wohlgemerkt) an. Die Gäste aus dem Nachbarland erkennen es sofort, johlen, singen lautstark mit und klatschen im Takt dazu. Sie zeigen großen Gefallen an der Aufmerksamkeit, die ihnen mit diesem Lied gewidmet wird. Die Knirpse wirken in dem Moment wie elende Tanzbären, die nur tun, worauf sie abgerichtet wurden. 

Mir geht es während der Vorführung überhaupt nicht gut und je länger sie dauert, umso stärker wird mein Unwohlsein. Ich mache mir Gedanken über die Methoden, mit denen diese Kinder wohl zu solchen Höchstleistungen gebracht werden. Natürlich weiß ich es nicht, aber ich habe ein sehr ungutes Gefühl. Ich überlege ernsthaft, was ich machen soll. Aufstehen und einfach gehen? Aufstehen und etwas sagen? Abwarten und später mit den Verantwortlichen sprechen?

Ich bin niemand, der den Konflikt sucht oder andere Menschen unnötig herausfordert. Im Gegenteil, je ruhiger und je harmonischer ich meine Umwelt wahrnehme, desto wohler fühle ich mich. Aber ich kann mich nur schwer zurücknehmen, wenn ich eine offensichtliche Ungerechtigkeit beobachte. Und so denke ich über meine Handlungsoptionen nach, während vor mir die Kinder und ihre Erzieherinnen ihr tagtägliches Bühnenprogramm absolvieren.

Wären wir nicht in Nordkorea, ich würde in einer solchen Situation sicher etwas unternehmen. Aber in diesem Land traue ich mich nicht aufzumucken und etwas zu kritisieren. Und so bleibe ich doch sitzen und hoffe einfach, dass es bald aufhört und ich diesen Ort endlich verlassen darf.

Nach der Veranstaltung frage ich unsere Reiseleiterin, ob dies tatsächlich ein „ganz normaler Kindergarten“ sei. Sie antwortet mit „Ja, natürlich“. Mit gehobenen Augenbrauen frage ich nach: „Bist du auch in einen solchen Kindergarten gegangen?“. Wieder bekomme ich nur ein knappes „Ja, natürlich“ als Antwort. Ein erneutes Nachfragen würde mich nicht weiterbringen und so schlucke ich meinen Unmut hinunter und steige mit einem sehr schlechten Gefühl wieder in den Reisebus.

Als wir am Abend wieder die Grenze zu China passieren bin ich sehr erleichtert, dass die Ausreise unkompliziert abläuft. Und ich bin in gewisser Weise froh, dass wir diesen Zwischenstopp hier in Sinuiju noch eingelegt haben. Denn die Besichtigung des lokalen Museums, einer weiteren Fabrik, einer Kunstgalerie und vor allem des Kindergartens verändern den Gesamteindruck, den ich von Nordkorea mitnehme.

Der Grenzfluss teilt Welten. Hier braches Land – dort Hochhäuserwettkampf.

Die Programmpunkte in den ersten Tagen waren zwar ebenfalls extra für ausländische Gäste ausgewählt und streng organisiert. Unsere Reiseleiter achteten immer sehr darauf, dass wir in der Gruppe bleiben, ja nicht trödeln oder (viel schlimmer!) verloren gehen. Wir sollten nur das sehen, was uns gezeigt wurde. Allerdings wurde uns mit dem Einkaufsbummel in einem Supermarkt, der Fahrt mit der Metro und dem Besuch des Naherholungsparks auch ein gewisser Einblick in den Lebensalltag einiger Bewohner von Pjöngjang gegeben. Dass nur wenige privilegierte Bürger diese Orte besuchen und davon profitieren können war mir durchaus klar, aber allein die Existenz dieser Plätze stimmte mich überraschend optimistisch. Dieses leicht positive Gefühl passte nicht zu den Berichten aus Dokumentarfilmen und Büchern, die ich vorab gesehen und gelesen hatte. Es passte auch nicht zu meinem allgemeinen Eindruck, den ich während der Tage in Pjöngjang und Kaesong von dem Land bekommen hatte. Während unserer Busfahrten sah ich viele recht magere Menschen auf den Feldern arbeiten und beobachtete wie Männer mit einer Schaufel den Schotter, den unser Bus beim Fahren zu Seite schleuderte, wieder auf die Straße schippten. Eine anstrengende, monotone und durch die Anlegung einer Teerstraße einfach zu vermeidende Arbeit. Eine Investition in die Infrastruktur ist jedoch scheinbar nicht möglich oder nicht gewollt.

Der Personenkult um die Herrscher ist omnipräsent und ich merke allein schon an den Antworten unserer Reiseleiter, dass es keine Meinungsfreiheit gibt. Alles Dinge, die mir in diesem Land negativ auffallen. So konnte ich es mir nicht erklären, dass ich am Abend der Mass Games eine Begeisterung spürte. Umso mehr bin ich froh darüber, dass wir am nächsten Tag nicht abgereist sind und ich eine weitere Chance bekam, das Bild von Nordkorea für mich wieder geradezurücken.

In Nordkorea ist alles so streng organisiert, dass es für die Machthaber recht einfach ist, Besuchern nur das zu zeigen, was sie sehen sollen. Es wird versucht, ein Bild vom Land zu vermitteln, welches möglichst positiv ist. Diese Bemühungen nehmen durchaus absurde Formen an und es ist klar, dass dies alles eine Illusion ist.

Doch sollte ich nicht vergessen, dass wir in den westlichen Ländern auch tagtäglich mehreren Illusionen unterliegen. Auch hier gibt es etliche Dinge, die der normale Bürger nicht mitbekommen soll und die dem gutgläubigen Verbraucher verborgen bleiben. Nur das wir hier durchaus in der Lage sind, uns über diese Missstände zu informieren und Ungerechtigkeiten bewusst anzugehen. Etwas, das in Nordkorea das eigene und das Leben der gesamten Familie gefährdet.

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