Über Illusionen

Gestern Abend war ich noch begeisterte Zuschauerin der Mass Games. Ich habe tausende junge Menschen bei ihrer akkurat ausgeführten Gymnastik beobachtet und war fasziniert von der uns dargebotenen Show. Wie der Name bereits sagt, es war ein Spektakel der Massen. Einzelne Menschen konnte ich nicht erkennen. Natürlich wusste ich, dass jeder einzelne Darsteller für diese exakte Synchronisierung der Bewegungen Höchstleistung vollbringen muss, doch ich blendete den Einzelnen in diesen Stunden aus. Ich bewunderte die Gemeinschaftsleistung und ich ließ mich mitreißen von dem Spektakel, der emotionalen Musik, der jubelnden Menge und der so geschaffenen Atmosphäre im Stadion.

Für die meisten Reisenden aus unserer Gruppe war es der letzte Abend in Nordkorea , doch Micha und ich entschieden uns bereits bei der Buchung für eine Verlängerungsnacht in Sinuiju. Die Grenzstadt zu China liegt auf unserem Rückweg und unser Reiseveranstalter bot jedem Zugreisenden, der sich noch ein weiteres Bild vom Land machen wollte, diesen zusätzlichen Zwischenstopp an.

Und so sitze ich heute erneut als Zuschauerin vor einer Gruppe von Artisten, die ebenso ihr Bestes geben. Auch heute staune ich über die präzise ausgeführten Bewegungen und die Synchronität der Gruppenmitglieder. Doch diesmal sitze ich viel näher an der Bühne und sehe die kleinen Künstler direkt vor mir. Die Protagonisten sind Kinder im Alter zwischen vier und etwa sieben Jahren. Ich schaue in geschminkte Gesichter mit weit aufgerissenen Augen und einem eindeutig künstlichem Lächeln. 

Heute sehe ich jeden Einzelnen. Ich sehe kleine, zierliche Körper, die in bunten Kostümen stecken. Vor mir singen, tanzen, turnen und musizieren Jungen und Mädchen eines, wie uns gesagt wurde, „ganz normalen Kindergartens“. 

Der Programmpunkt „Besichtigung eines Kindergartens“ ist eingebettet zwischen dem „Revolutionsmuseum“ und der „Kunstgalerie“. Ich war so naiv zu glauben, dass wir hier spielende Kinder besuchen würden. Kinder, die draußen im Sandkasten kleine Burgen bauen, herumtoben oder drinnen vielleicht etwas basteln würden. Ich stellte mir Szenen vor, die ich von meiner eigenen Kindergartenzeit kenne. Dass diese Einrichtung jedoch kein gewöhnlicher Kindergarten sein konnte, wird mir bereits auf dem Parkplatz mit voller Wucht bewusst. Vor dem grossen Gebäude gibt es einen noch grösseren betonierten Platz, der den riesigen Flächen vor europäischen Baumärkten sehr ähnlich sieht. Nur das in diesem Land kaum jemand ein Auto besitzt und der Platz demnach einzig für Touristenbusse angelegt wurde. Als wir ankommen strömen bereits mehrere Gruppen von chinesischen Besuchern auf den Haupteingang zu.

Wir werden in das Gebäude geführt und sollen gleich hinauf in den dritten Stock gehen, ins Auditorium. Ins Auditorium? Dieses Wort assoziiere ich mit einer Universität, nicht mit einem Kindergarten. „Oh je, wo bin ich hier?“, denke ich erneut. Ich schaue mich um, sehe aber keine Spur von spielenden Knirpsen. Einzig die bunt bemalten Wände und die darauf klebenden Comicfiguren erinnern an einen Kindergarten. Auf dem Weg nach oben versuche ich in die einzelnen Zimmer reinzuschauen, doch die Türen sind fast alle verschlossen. Nur aus einem Raum erklingt Musik, die Tür ist halb offen und ich kann ein kleines Mädchen und eine Erzieherin an einem Klavier sitzen sehen. Oben angekommen ist der Saal bereits gut gefüllt. Mehrere hundert Touristen aus dem großen Nachbarland sitzen bereits auf den Stühlen und warten, dass wir Europäer nun auch endlich Platz nehmen. Ich kann es kaum glauben, wir sind tatsächlich in einem Auditorium. Die Sitzreihen sind nach hinten steigend angeordnet, um von allen Plätzen eine gute Sicht auf die Bühne zu gewährleisten.

Als der Vorhang aufgeht, stürmen um die 50 Kinder auf die Bühne. Sie stellen sich auf, singen ein Lied und neigen dabei ihre Köpfchen im Gleichtakt nach Links und nach Rechts. Zum Schluss springen sie, jubeln und klatschen in die Hände. Das ist der Auftakt zu einer einstündigen Show.

Die Leistung der Kinder ist absolute Weltklasse, die ich sehr würdige und für die ich am Ende auch applaudiere. Ich kann es jedoch nur schwer aushalten, in die Gesichter der Jungen und Mädchen zu schauen. Sie wirken sehr steif, ihr Lächeln ist aufgesetzt und ihre Augen haben keinen Glanz. Diese Kleinen haben, außer ihrer Körpergröße, nichts Kindliches an sich. Welche Disziplin (und welchen Drill) braucht es, um in dem Alter so eine Leistung abrufen zu können?

Die jungen Bühnenkünstler machen während der gesamten Vorführung keinen einzigen Fehler. Sie jonglieren mit Fussbällen (ohne das auch nur ein Ball herunterfällt), spielen verschiedene Instrumente (ich höre keinen einzigen schiefen Ton) und sie hüpfen beim Seilspringen über mehrere Seile gleichzeitig (ohne sich dabei zu verheddern). 

Zwischen den akrobatischen Darbietungen wird auch immer wieder gesungen. Auf einmal stimmen die kleinen Nordkoreaner dem Anschein nach ein bekanntes chinesischen Volkslied (auf chinesisch wohlgemerkt) an. Die Gäste aus dem Nachbarland erkennen es sofort, johlen, singen lautstark mit und klatschen im Takt dazu. Sie zeigen großen Gefallen an der Aufmerksamkeit, die ihnen mit diesem Lied gewidmet wird. Die Knirpse wirken in dem Moment wie elende Tanzbären, die nur tun, worauf sie abgerichtet wurden. 

Mir geht es während der Vorführung überhaupt nicht gut und je länger sie dauert, umso stärker wird mein Unwohlsein. Ich mache mir Gedanken über die Methoden, mit denen diese Kinder wohl zu solchen Höchstleistungen gebracht werden. Natürlich weiß ich es nicht, aber ich habe ein sehr ungutes Gefühl. Ich überlege ernsthaft, was ich machen soll. Aufstehen und einfach gehen? Aufstehen und etwas sagen? Abwarten und später mit den Verantwortlichen sprechen?

Ich bin niemand, der den Konflikt sucht oder andere Menschen unnötig herausfordert. Im Gegenteil, je ruhiger und je harmonischer ich meine Umwelt wahrnehme, desto wohler fühle ich mich. Aber ich kann mich nur schwer zurücknehmen, wenn ich eine offensichtliche Ungerechtigkeit beobachte. Und so denke ich über meine Handlungsoptionen nach, während vor mir die Kinder und ihre Erzieherinnen ihr tagtägliches Bühnenprogramm absolvieren.

Wären wir nicht in Nordkorea, ich würde in einer solchen Situation sicher etwas unternehmen. Aber in diesem Land traue ich mich nicht aufzumucken und etwas zu kritisieren. Und so bleibe ich doch sitzen und hoffe einfach, dass es bald aufhört und ich diesen Ort endlich verlassen darf.

Nach der Veranstaltung frage ich unsere Reiseleiterin, ob dies tatsächlich ein „ganz normaler Kindergarten“ sei. Sie antwortet mit „Ja, natürlich“. Mit gehobenen Augenbrauen frage ich nach: „Bist du auch in einen solchen Kindergarten gegangen?“. Wieder bekomme ich nur ein knappes „Ja, natürlich“ als Antwort. Ein erneutes Nachfragen würde mich nicht weiterbringen und so schlucke ich meinen Unmut hinunter und steige mit einem sehr schlechten Gefühl wieder in den Reisebus.

Als wir am Abend wieder die Grenze zu China passieren bin ich sehr erleichtert, dass die Ausreise unkompliziert abläuft. Und ich bin in gewisser Weise froh, dass wir diesen Zwischenstopp hier in Sinuiju noch eingelegt haben. Denn die Besichtigung des lokalen Museums, einer weiteren Fabrik, einer Kunstgalerie und vor allem des Kindergartens verändern den Gesamteindruck, den ich von Nordkorea mitnehme.

Der Grenzfluss teilt Welten. Hier braches Land – dort Hochhäuserwettkampf.

Die Programmpunkte in den ersten Tagen waren zwar ebenfalls extra für ausländische Gäste ausgewählt und streng organisiert. Unsere Reiseleiter achteten immer sehr darauf, dass wir in der Gruppe bleiben, ja nicht trödeln oder (viel schlimmer!) verloren gehen. Wir sollten nur das sehen, was uns gezeigt wurde. Allerdings wurde uns mit dem Einkaufsbummel in einem Supermarkt, der Fahrt mit der Metro und dem Besuch des Naherholungsparks auch ein gewisser Einblick in den Lebensalltag einiger Bewohner von Pjöngjang gegeben. Dass nur wenige privilegierte Bürger diese Orte besuchen und davon profitieren können war mir durchaus klar, aber allein die Existenz dieser Plätze stimmte mich überraschend optimistisch. Dieses leicht positive Gefühl passte nicht zu den Berichten aus Dokumentarfilmen und Büchern, die ich vorab gesehen und gelesen hatte. Es passte auch nicht zu meinem allgemeinen Eindruck, den ich während der Tage in Pjöngjang und Kaesong von dem Land bekommen hatte. Während unserer Busfahrten sah ich viele recht magere Menschen auf den Feldern arbeiten und beobachtete wie Männer mit einer Schaufel den Schotter, den unser Bus beim Fahren zu Seite schleuderte, wieder auf die Straße schippten. Eine anstrengende, monotone und durch die Anlegung einer Teerstraße einfach zu vermeidende Arbeit. Eine Investition in die Infrastruktur ist jedoch scheinbar nicht möglich oder nicht gewollt.

Der Personenkult um die Herrscher ist omnipräsent und ich merke allein schon an den Antworten unserer Reiseleiter, dass es keine Meinungsfreiheit gibt. Alles Dinge, die mir in diesem Land negativ auffallen. So konnte ich es mir nicht erklären, dass ich am Abend der Mass Games eine Begeisterung spürte. Umso mehr bin ich froh darüber, dass wir am nächsten Tag nicht abgereist sind und ich eine weitere Chance bekam, das Bild von Nordkorea für mich wieder geradezurücken.

In Nordkorea ist alles so streng organisiert, dass es für die Machthaber recht einfach ist, Besuchern nur das zu zeigen, was sie sehen sollen. Es wird versucht, ein Bild vom Land zu vermitteln, welches möglichst positiv ist. Diese Bemühungen nehmen durchaus absurde Formen an und es ist klar, dass dies alles eine Illusion ist.

Doch sollte ich nicht vergessen, dass wir in den westlichen Ländern auch tagtäglich mehreren Illusionen unterliegen. Auch hier gibt es etliche Dinge, die der normale Bürger nicht mitbekommen soll und die dem gutgläubigen Verbraucher verborgen bleiben. Nur das wir hier durchaus in der Lage sind, uns über diese Missstände zu informieren und Ungerechtigkeiten bewusst anzugehen. Etwas, das in Nordkorea das eigene und das Leben der gesamten Familie gefährdet.

Dehnübungen im Palast

Die Kleidervorschrift für den Besuch des Kumsusan Palast der Sonne ist sehr streng: Männer müssen ein Hemd und eine Krawatte tragen, dunkle Hosen (keine Jeans) und dunkle Schuhe. Ich soll entweder einen zumindest knielangen Rock, ein Kleid oder eine lange Stoffhose anziehen. Die Bluse muss die Schultern bedecken (einfach einen Schal darüber zu legen, reicht nicht aus). Dazu soll ich mir Schuhe aussuchen, die die Zehen bedecken. Turnschuhe – das versteht sich von selbst, sind nicht erwünscht. 

Da unser Rucksack jedoch nicht den Inhalt eines begehbaren Kleiderschranks hervorzaubern kann und wir in Nordkorea nicht einfach so shoppen gehen können, besorgten wir uns die fehlende Krawatte für Micha und ein paar geschlossene Schuhe für mich noch in Peking.

Hübsch verpackt und rausgeputzt wie schon lange nicht mehr, starten wir früh in den Tag. In unserem Bus auf dem Weg zum Mausoleum werden wir von unseren Guides erneut über den Ablauf des Besuchs informiert. Denn nicht nur die Kleidervorschriften sind streng, auch das Verhalten vor Ort ist klar geregelt und darf auf keinen Fall abweichen. Zur Sicherheit bekommen wir die Anweisungen ebenfalls auf Papier ausgehändigt. Aha – da ist er wieder –  einer der Momente, in denen wir uns als Paar besser kennenlernen. Jetzt wissen wir, wer von uns beiden in Zukunft die Beipackzettel von Medikamenten und die Gebrauchsanweisung von neuen elektronischen Geräten lesen wird. Während ich mich pflichtbewusst durch die zwei A4-Seiten Anweisungen auf Englisch durcharbeite, vertraut Micha auf das gesprochene Wort und lässt es dabei bewenden – oder: Am Arsch vorbei führt auch ein Weg.

Der Bus lässt uns an einem grossen Parkplatz raus. Zu unserem Erstaunen heißt es nicht „Balliballi“, sondern „bitte warten“. Alle momentanen Nordkorea-Touristen haben ihren Besichtigungstermin auch heute. Es ist Reisegruppen aus dem Ausland nur Donnerstag- und Sonntagvormittag erlaubt, die Anlage zu besichtigen. Es kommen noch viele weitere Busse an.

Während wir hier so stehen und warten, beobachte ich die anderen Touristen. Ich höre viel Englisch, etwas Deutsch und Russisch durcheinanderreden. Fast alle sind den Anweisungen entsprechend gekleidet. Doch irgendetwas ist anders als sonst. Aber was? Schnell fällt mir auf, dass hier eine Sprache in dem Hintergrundrauschen fehlt. Haben wir sonst überall auch grosse Reisegruppen mit chinesischen Touristen gesehen, so fehlen diese hier komplett. Ich frage unseren Reiseleiter und dieser muss sofort schmunzeln. Ich bin nicht die erste, die nach den Gästen aus dem Nachbarland fragt. Unter vorgehaltener Hand sagt er uns, dass es den Chinesen sehr schwer fällt, sich an die bestehenden strengen Kleider- und Verhaltensvorschriften zu halten und sie deshalb hier von höchster Ebene angeordnet unerwünscht sind.

Nach dem Besuch im Inneren dürfen wir noch schnell ein Foto vor dem Palast machen.

Der ehemalige Amtssitz des „ewigen Präsidenten“ Kim Il Sung ist heute seine Ruhestätte, ebenso die seines Sohnes Kim Jong Il. Es ist das größte bestehende Mausoleum, das einem kommunistischen Machthaber gewidmet ist. Das Fotografieren im Inneren des Gebäudes ist strengstens verboten. Die Artikel-Bilder, die wir verwenden, sind Screenshots aus diesem Video vom staatlichen Fernsehen. Es zeigt den Besuch des amtierenden Machthabers Kim Jong Un und ist schon allein aufgrund der euphorischen Nachrichtensprecherin in den ersten 30 Sekunden sehenswert. Kim III nimmt in der Reportage die gleiche Route wie wir.

Nachdem wir alle vollständig sind, geht es los: Aufstellung in einer 4-er Reihe bis alle untergebracht sind. Wir setzen uns in Bewegung.  Ab den ersten mehr oder weniger synchronen Schritten herrscht Redeverbot. Wir sollen darauf achten, immer auf der gleichen Höhe zu gehen, wie die anderen drei Personen aus unserer 4-er Gruppe – gar nicht so einfach. Wann bin ich das letzte Mal im Gleichschritt gelaufen? War das in meiner Grashüpfergruppe im Kindergarten? Den einheimischen Besuchern, die weit vor uns gehen, fällt diese Art der Fortbewegung sichtlich leichter.

Nach dem Besuch lockern sich die Reihen wieder.

Bald erreichen wir eine Halle, der eigentliche Eingang zu dem Palast. Hier müssen wir nochmals warten und uns neu formieren. Eine 2-er Gruppe ist jetzt zu bilden. Die Koreaner, die eben noch vor uns liefen, warten auch. Ich nutze den Moment, um sie genauer anzuschauen. Von weitem erkannte ich, dass die Frauen fast alle traditionelle Kleider und die Männer alle einen Anzug tragen. Jetzt kann ich ihre Gesichter näher betrachten. Ich sehe Menschen, die gezeichnet sind vom Leben auf dem Land,  von körperlich schwerer Arbeit. Vor allem die Männer sehen dünn, fast dürr aus, ihre großen schwieligen Hände verraten, das ihr Alltag nicht aus Home-Office besteht. Die Haut ist rau und gezeichnet von den vielen Tagen unter freiem Himmel. Seltsam, das gerade dieser Teint in unseren Breitengraden als verwegen, heldenhaft männlich missdeutet wird. Jetzt erkenne ich auch den sehr schlechten Zustand ihrer Anzüge. Waren die Koreaner, die wir im Zentrum von Pjöngjang gesehen haben, ziemlich gut gekleidet, so fällt es hier auf, dass diese Besucher wohl nicht zu den privilegierten Hauptstadtmenschen gehören. Wahrscheinlich schaue ich jetzt in das wahre Gesicht von Nordkorea. Was ist wohl die Lebensgeschichte jedes Einzelnen? 

Mein Gedankengang wird unterbrochen, denn wir müssen weiter. Wir passieren einige Kontrollen, biegen erst links, dann wieder rechts ab. Bald stehen wir auf einem Fahrsteig, wie man ihn vom Flughafen kennt, um große Distanzen schneller zu überbrücken. Links von uns befindet sich eine weiße Mauer mit eingravierten fliegenden Kranichen. Davor wurden Weinreben gepflanzt, alle stehen im gleichen Abstand zueinander. An der Decke sind Lautsprecher angebracht, sie beschallen uns in Dauerschleife mit der getragenen Sinfonie, die zum Tode des „ewigen Präsidenten“ Kim Il Sung extra komponiert wurde. Sie erfüllt ihren Zweck – ich werde traurig. Aber nicht über den Tod des Herrschers, sondern über das offensichtlich schwere Los der Menschen, die hier leben und nun vor mir auf dem Rollfeld stehen.

Es vergeht eine Ewigkeit, bis wir das Ende dieses Flurs erreichen. Dann geht es erneut durch meterhohe Türen, weiter nach unten – wie in eine Gruft, nur besser ausgeleuchtet. Wir scheinen einen neuen Gebäudeabschnitt erreicht zu haben. Wieder müssen wir uns von einer flachen Rolltreppe im Zeitlupentempo chauffieren lassen. Diese Dinger wären in Flughäfen ganz klar ein No Go – viel zu langsam. Hier allerdings sollen die Besucher den Moment bewusst erleben, um die beidseitig hängenden Gemälde bewundern zu können. Sie zeigen den verstorbenen Vater und den Grossvater des aktuellen Alleinherrschers in gewohnt strahlend-visionären Posen. Links Kim I bei der feierlichen Eröffnung einer Fabrik, rechts Kim II bei der Bewunderung frisch geernteter Kartoffeln. Es sind bestimmt 50 Bilder von jedem – alle zeigen ähnliche Motive, alle haben dieselbe Grösse, alle umgibt ein goldener Rahmen. Sie sind im exakt gleichen Abstand zueinander aufgereiht. 

Der Grosspapa ganz entspannt mit Zigarettchen.

Dann stehen wir endlich vor der ersten Besucherhalle. Wie war die Instruktion doch gleich? Richtig, nun ist wieder eine 4-er Gruppe zu bilden. Langsam im Gleichschritt sollen wir vorwärts gehen, bis zu einer weissen Linie auf dem Boden, dort sollen wir stehen bleiben. Wir gleiten durch einen riesigen in goldener Farbe gehaltenen Raum, voller Marmor, perfekt poliert, überall stehen Säulen, es ist sehr hell. Unseren Blick haben wir auf die zwei übergrossen Wachsfiguren von Kim Il Sung und Kim Jong Il gerichtet. Micha läuft in der 4-er Gruppe vor mir. Ich sehe, wie er und sein Nachbar die weisse Grenzlinie marginal übertreten. Mein Herz reagiert sofort mit erhöhtem Pulsschlag – ich habe Angst, dass dieser Fauxpas von den Soldaten registriert und abgemahnt wird. Zum Glück reagiert der andere Nachbar und weisst die beiden Delinquenten flüsternd darauf hin. Die Soldaten haben wohl nichts gemerkt. Keine Ahnung, welche Auswirkungen so ein Grenzübertritt haben könnte – aber ich finde, mein Mann sollten es nicht austesten.

Vor den Wachsstatuen müssen wir uns das erste Mal verneigen. Eine 90-Grad Verbeugung wurde uns empfohlen. Die Hände sollen dabei entweder vor dem Körper gefaltet werden oder gerade an der Hüfte anliegen. Sie hinter dem Rücken zu halten, gilt als Beleidigung der Wachsfiguren. Nach der langsam ausgeführten Gruppenverbeugung geht es aus dem Raum heraus. Mein Herz hat sich mittlerweile auch wieder beruhigt. Wir stehen im Vorraum des Mausoleums von Kim Il Sung. Der Guide erinnert uns an den Ablauf der nächsten zwei Minuten:  Als 4-er Gruppe sollen wir vor den Sarg treten, vor den Füssen des Verstorbenen stehen bleiben (auch hier gibt es kleine Punkte am Boden, die dem Besucher den genauen Platz für die Verbeugung anzeigen), innehalten und uns dann langsam verneigen. Das gemeinsame Verbeugen fällt meiner Gruppe erstaunlich leicht. Obwohl wir nicht verbal miteinander kommunizieren und nebeneinander stehen, spüren wir als Gemeinschaft, wann wir mit dem Oberkörper nach unten gehen und wann wir uns gemeinsam wieder aufrichten. Dann geht es im Uhrzeigersinn weiter um den Sarg herum. Wir bleiben vor der linken Seite stehen und verneigen uns erneut. Jetzt müssen wir uns konzentrieren, denn nun kommt eine Ausnahme: am Kopfende dürfen wir nicht pausieren und uns auf keinen Fall vor dem Haupt des Aufgebetteten verneigen (ihr ahnt es: es gilt als Beleidigung). Also schleichen wir diszipliniert weiter zur rechten Seite, stoppen und genau: verneigen uns ein drittes Mal. Das Verbeugen vor dem Diktator ist übrigens Pflicht. Wir wussten im Vorfeld, dass dies hier von uns verlangt wird. Diejenigen, die sich nicht vor den Verstorbenen verneigen möchten, hätten heute Morgen im Hotel bleiben können. Aus unserer Gruppe sind alle mitgekommen. Ich betrachte die Verbeugung als Dehnübung für meine hintere Oberschenkelmuskulatur. 

Von dem Parteiführer selbst sehe ich kaum etwas. Ich bin so auf das korrekte Ausführen des Rituals konzentriert, dass ich keine Details des Toten wahrnehme. Zudem ist das Licht in diesem Raum sehr gedämmt. Mir fällt jedoch auf, dass in jeder Ecke ein Soldat in voller Montur stramm steht.

Wir verlassen den Bereich und gehen nun durch den Museumsteil dieser Etage. Allerhand Ehrendoktortitel von Kim Il Sung (Kim I) und Gastgeschenke befreundeter Staaten werden zur Schau gestellt. Dann treten wir in eine riesige Ausstellungshalle und bekommen zunächst die konkrete Reiseroute von diversen Staatsbesuchen erklärt. Die Limousinen, der private Eisenbahnwaggon und sogar die Yacht von Kim I sind hier ausgestellt. Ein Dienstfahrrad suche ich vergebens.

Danach gehen wir als Gruppe geschlossen eine Ebene höher zum Mausoleum von Kim Jong Il (Kim II ). Noch einmal treten wir vor einen offenen Sarg, machen unsere Dehnübungen an den drei Seiten und werden im Anschluss zu den Auszeichnungen, Medaillen und Dienstfahrzeugen des „Ewigen Generalsekretärs“ geführt. 

Das grosse Gebäude, die exakt vorgegebene Prozedur und die hier herrschende angespannte Stimmung machen den Besuch anstrengend für mich. Ich bin froh, dass ich nun wieder auf dem Fahrsteig stehe und mich von diesem langsam zurückfahren lasse. Das Band auf der anderen Seite befördert die koreanischen Besucher, die ihren Rundgang noch vor sich haben. Ich betrachte sie, schaue sie direkt an, doch mein Blick wird nicht erwidert. Fast alle starren nach vorn oder nach unten. Ich sehe sie, sehe jeden Menschen, der sich langsam an mir vorbei bewegt. Jeder Einzelne ist wichtig, auch wenn die Rhetorik in diesem Land nur das Kollektiv kennt. Wieder frage ich mich bei Jedem, was wohl seine ganz persönliche Geschichte ist. Ich werde sie nie erfahren. Mit meinem Blick versuche ich dem Menschen, der gerade auf meiner Augenhöhe ist, Zuspruch zu schenken. Und in meiner Vorstellung verbeuge ich mich vor ihm. Diese gedankliche Verneigung meine ich ernst. Diese Verbeugung ist voller Aufrichtigkeit.  

Let`s dance

Es nervt. Die Museumsführerin rattert einen in- und auswendig gelernten Text im Eiltempo ohne Punkt und Komma herunter. Sie redet so schnell in diesem asiatischen Englisch, dass wir kaum etwas verstehen. Dabei lässt sie keine noch so kleine Pause zwischen zwei Sätzen zu. Es ist klar, dass wir keine Chance haben sollen, eine Frage zu stellen. Wir werden aufgefordert, jedes erwähnte Artefakt würdigend zu bestaunen und dabei gleichzeitig zügig weiter zu gehen. Ein Widerspruch, der sich leicht auflösen ließe.

Unsere zwei koranischen Betreuer Lee und Kim verfolgen jedoch einen anderen Ansatz und drängen uns, voran zu gehen. Für ihren Geschmack bleiben wir stets einen Tick zu lang vor den uns präsentierten Hinterlassenschaften des ewigen Präsidenten Kim Il Sung stehen. Ständig hören wir es hinter uns rufen: „Gapsida“, was soviel heißt wie „Los geht’s“. Wir fühlen uns wie in einer Kindergartengruppe mit strengen Erzieherinnen alter Schule. Wer nicht der Aufforderung folgt, bekommt auch gleich ein „Balli Balli“ hinterhergerufen: „Weiter, weiter“. Der Vergleich mit dem Kindergarten hackt. Wir fühlen uns eher wie unschuldige Schäfchen, die von einem übermotivierten Border Collie jedesmal in die Hacken gebissen werden, wenn es nicht in seinem Sauseschritt weitergeht. Diese zwei Ausdrücke „Gapsida“ und „Balli Balli“ schienen die Lieblingswörter unserer koreanischen Guides zu sein. Insbesondere die jüngere der Beiden, Miss Kim, nimmt ihre Hütehundaufgabe sehr ernst, weshalb sie von uns den Spitznamen „Miss Balliballi – der Wauwau“ erhält.

Schön, aber unerbittlich: Miss Balliballi, unsere nordkoreanische Border Collie Dame

Heute ist Miss Balliballi besonders streng mit ihren Schäfchen, also uns, denn heute ist ein mit Terminen über und über vollgestopfter Tag. Für die Koreaner ist es einer der wichtigsten Feiertage des Jahres. Es ist der 9. September, der 71. Jahrestag der Republikgründung.

Nach der morgendlichen Besichtigung fährt uns der Bus zu einem grossen Platz, auf dem bereits ein buntes Treiben herrscht. Mein Blick bleibt sofort an den vielen jungen, adrett gekleideten Menschen haften. Die Frauen leuchten in ihren farbenfrohen Kleidern, die Männer wirken korrekt in weißen Hemden, roten Krawatten und Anzugshosen.

Aus grossen Lautsprechern tönt heitere Musik, sie variiert von Marschmusik über Volkslieder bis hin zu schlagerähnlichen Klängen. Die schmucken Jugendlichen tanzen miteinander und bilden gleichzeitig Formationen, die von oben betrachtet wie ein atmendes Eiskristall anmuten. 

Aus unserer Reisegruppe wagen sich die ersten hinein in das geordnete Chaos und kopieren vorsichtig engagiert die Bewegungen der rhythmisch-kreisenden Studenten. Jana und ich schauen auf den gefüllten Platz, dann uns gegenseitig an und überlegen, worauf das Ganze hier hinausläuft. Wir beschließen, Spaß zu haben und uns dem lustigen Treiben anzuschließen. Diese Art von individuellem Kontakt zu den Pjöngjangern scheint erlaubt und sogar erwünscht zu sein. Miss Balliballi arrangiert für uns den Einstieg in die Volkstanzgruppe. Ein junges Paar erwidert unser freundlichstes Lächeln. Danach schwingen Jana mit So Yuan und ich mit Ming Mi das Tanzbein.

So Yuan und Ming Mi in Aktion

Die vier bis fünf Tanzschritte sind massentauglich und selbst für einen BWLer (also ein Bewegungslegastheniker) wie mich, schnell erlernbar. Alles wird mit kontrollierter Begeisterung ohne längere Pausen hintereinander durchgetanzt. Trotz verhaltener Schrittfolgen und mässigem Tempo kommen Jana und ich schnell ins Schwitzen. Es ist schwül und wir sind etwas aufgeregt. Wer hätte das gedacht, das wir ausgerechnet in Nordkorea unseren musikalischen Bewegungsdrang würden befriedigen können? Unter den Augen der verblichenen und trotzdem omnipräsenten ewigen Präsidenten Kim Il Sung und des ewigen Generals Kim Jong Il genießen wir die aufgelockerte Abwechslung. Nach vier Tänzen bedanken wir uns artig bei unseren Tanzpartnern, die beide sehr gut englisch sprechen. Wir können jetzt aufhören, die Koreaner nicht. Noch etwa eine halbe Stunde müssen sie weiter tanzen, bis auch sie geordnet den Platz verlassen dürfen.

War das jetzt alles für die Touristen arrangiert oder hätte dieses Open-Air-Happening auch ohne uns stattgefunden?

Nach der Veranstaltung wird der gemeinsame Rückzug geordnet angetreten.

Über die Mittagszeit picknicken wir im Moranbong Park, dem grössten Stadtpark und einem beliebten Ausflugsziel der Hauptstadtbewohner. Auf mitgebrachten Decken, Campingstühlen oder einfach nur auf Treppenabsätzen lassen sich Familien, Freunde oder Pärchen nieder, um gemeinsam zu essen, zu trinken, zu lachen, sich zu unterhalten, etwas zu spielen oder zu singen. Die Stimmung ist für hiesige Verhältnisse heiter gelassen bis ausgelassen. Es fühlt sich friedlich und fröhlich an. Es scheint, als ob die Diktatur einen Moment Pause macht.

Ab und zu hören wir ein „Anyoung hashimnikka“ in unsere Richtung, welches lautmalerisch deutlich wohlklingender als das „Balli Balli“ ist. Es ist die Begrüßung, die den höchstmöglichen Grad an Respekt oder Aufrichtigkeit zeigt und wird oft bei wichtigen Gästen oder geliebten Menschen, die man lange nicht gesehen hat, verwendet.

Vor Ort erhalten wir die Lunchpakete. Die Energie brauchen wir auch, denn es herrscht volksfestähnliche Stimmung. Die herzliche Aufforderung einiger Einheimischer, sich ihnen im Gesang oder Tanz anzuschliessen, können wir uns zu ihrer und unserer Freude nicht entziehen. Die für unsere Ohren eher unpopulären Klänge animieren Jana und mich zu schlangenförmigen Bewegungen mit unseren Extremitäten, auch weil unsere jeweiligen Tanzpartner uns dazu ermutigen.

Unters Volk gemischt und mitgemacht.

Jana wird von einem Tanzpartner zum Nächsten gereicht. Ich schleiche mich heimlich davon und warte geduldig an einem Schiessstand, um mit sowas ähnlichem wie einem Luftdruckgewähr auf eine runde Scheibe zu zielen. Da ich kaum was treffe (was natürlich nur am miesen technischen Material gelegen haben kann) verliere ich schnell die Lust und lasse Anderen den Vortritt. Von weitem hören wir es schon rufen…..na….eine Idee, was das gewesen sein könnte? Unser Wauwau Miss Kim sammelt ihre Schäfchen ein und treibt die Herde zum Bus. Balli Balli. Schliesslich haben wir heute noch viel vor.

Als nächstes haben wir die Wahl zwischen einem Zirkus- oder einem Opernbesuch. Jana entscheidet sich für die auditiven, ich für die visuellen Reize. Mein letzter Zirkusbesuch war mit Maximilian als er vier Jahre alt war, also vor rund 14 Jahren. Das war in einem kleinen familienbetriebenen Wanderzirkus, in dem jeder Künstler gefühlt ein Dutzend Aufgaben wahrnehmen muss, damit es zum Überleben reicht. Heute fliegen Spitzenakrobaten vor meiner Nase durch die Luft, deren Athletik und Geschicklichkeit mich sprachlos machen. Es handelt sich um Artistik vom Feinsten im vollbesetzten Staatszirkus. Aufgrund des Feiertages können viele Schulkinder kostenfrei zuschauen.

Nun dürfen wir im Duck Barbecue Restaurant unseren Hunger stillen. Wie immer ist ein separater Tisch für Jana, mich und zwei andere Gäste vorbereitet, an dem wir vegetarische Speisen serviert bekommen. Das hat während der gesamten Reise wirklich gut geklappt. Ein lokales Schmankerl ist die typische koreanische kalte Nudelsuppe. Zum Nachtisch wird mit lauter Musik eine mit brennenden Kerzen bestückte grosse Torte in den Saal gebracht. Mister Lee, unser männlicher koreanischer Tourbegleiter, hat heute Geburtstag. Wir gratulieren ihm und freuen uns über den zusätzlichen süssen Nachtisch.

Koreanische Kalte Nudeln – das Nationalgericht

Obwohl es schon spät Abends ist, steht uns der Höhepunkt des Tages noch bevor. Nachdem wir am Vormittag Teil des Massdance, quasi dem Vorprogramm der Massgames, waren und danach im Stadtpark weiter tanzten, sind wir diesmal nur Zuschauer, wenn andere tanzen. Die Massgames sind eine seit den Sechziger Jahren vom Staat organisierte Großveranstaltung, bei der in einem Stadion eine in jeder Hinsicht gigantische Show dargeboten wird. Die Massgames stehen dieses Mal unter dem Motto „Land of the People“. An 28 Abenden im August und September können im 114.000 (früher 150.000) Zuschauer fassenden größten Stadion der Welt, dem May-Day-Stadion, rund 100.000 Darsteller, Künstler, Sportler, mehrheitlich wohl Studenten, Kinder und Jugendliche bei ihren Massenchoreografien bewundert werden. Die Vorbereitungen betragen drei Monate bei täglicher Übung (außer Sonntags). 

Normalerweise führt mich selten der Weg in ein Stadion. Ich meide sonst Großveranstaltungen jeglicher Art. Sie sind mir eher suspekt. Menschenmassen insbesondere in Stadien haben auf mich eine eher bedrohliche Wirkung. Für mich fühlt es sich an solchen Orten und in Momenten höchster Massenkonzentration so an, als wenn die schmale Schicht dessen, was wir Kultur nennen durchbrochen und das Animalische und Archaische in uns wieder die Steuerung übernimmt. Das Individuelle löst sich auf. Die Suggestion der kollektiven Macht erstarkt und bricht sich ihre Bahn.

Es ist wohl kein Zufall, dass ausgerechnet in einem der wirtschaftlich ärmsten Länder der Welt jedoch mit einer mächtigen Diktatur das größte Stadion der Welt steht. Der Einzelne zählt nichts. Jeder hat sich der Gemeinschaft und seinen politischen Führern unterzuordnen. Diese Glaubenssätze werden den Menschen hier und uns Gästen auf offene, aber auch subtile Art permanent vermittelt. Das Verrückte ist nur, das sich die Menschen in Nordkorea und bei uns im Westen darin gar nicht so sehr unterscheiden. Der renommierte Stadionarchitekt Volkwin Marg formulierte es in einem Zeit-Interview (zum lesen hier klicken) so: „In einer Demokratie wie der unsrigen fühlt sich der Einzelne als Individuum häufig schwach und machtlos…..Dieser Einzelne fühlt sich in einer Fussballarena unter Gleichgesinnten in der gleichen Emotion ungeheuer mächtig. Dieses Machtgefühl ist so begehrt wie eh und jeh. Der Mensch ist ein Schwarmwesen und wird immer gefährdet sein von der politischen, der ideologischen oder der religiösen Schwarmgeisterei verführt zu werden. „

Vielleicht erklärt das meinen Zwiespalt. Einerseits kann ich mich der euphorisierenden Gefühle als Teil dieser starken Stadion-Gemeinschaft auf Zeit auch nicht entziehen. Es fühlt sich kraftvoll und trotz der Menschenmassen sicher an. Anderseits sehe ich die Gefahr der Manipulierbarkeit von Menschen, wenn deren eigener Verstand durch kollektive Emotionen ersetzt wird. 

Hier könnt ihr das Einführungsvideo unseres Reiseveranstalters zu den Mass Games auf YouTube sehen. 

Ich freue mich jedenfalls, am Abend Zeuge dieser Vorführung und Teil dieser Emotionen zu sein. Schließlich war diese Veranstaltung, trotz meiner Bedenken zu Massenveranstaltungen, ein wesentlicher Grund für unsere Reise nach Nordkorea. Nach der Eröffnungsveranstaltung im Juni wurden sämtliche Folgetermine auf Eis gelegt. Kim Jong Un persönlich soll mit dem Ergebnis der Darbietung unzufrieden gewesen sein. Alles musste überarbeitet werden. Unser Reiseveranstalter signalisierte jedoch, dass die Darbietungen ab August wieder aufgenommen werden sollen. Aber eine Garantie gab es natürlich nicht. Da die Massgames keinen festen Rhythmus haben, manchmal zwei Jahre hintereinander und manchmal auch mit einem Abstand von 10 Jahren stattfinden, entschieden wir uns, auf gut Glück zu buchen. Und wir wurden erneut belohnt. Allein für diesen Besuch hätte sich der Trip nach Nordkorea schon gelohnt.

Zunächst fällt uns die riesige digitale Leinwand auf der gegenüberliegenden Zuschauertribüne auf. Während die Zuschauer noch ins Stadium strömen und ihren Platz suchen, schauen wir auf ein sich stets änderndes Bild an Buchstaben. 

Was wird da gezeigt, was steht da? Wir fragen nach und erfahren, dass hier die Stadtteilnamen gezeigt werden, aus denen die Kinder stammen. Welche Kinder? Na die, die die Tafeln halten. Moment, das da drüben sind gar keine Millionen von Pixel? Da sitzen uns Tausende von Kindern gegenüber, die mit Clipboards ganz analog einen Effekt erzeugen, wie von einer riesigen digitalen Anzeigetafel. Wir kommen aus dem Staunen nicht heraus. Die überwältigende Wirkung wird durch den militärisch exakten und sekundengenauen Wechsel der Schilder erzeugt. Und das ist nur das Vorprogramm bis alle Zuschauer sitzen. 

Nun beginnt die eigentliche Show. Auf dem Stadionfeld läuft vieles synchron und entfaltet seine beeindruckende Wirkung durch die schiere Masse an Protagonisten, die sich perfekt aufeinander abgestimmt ordnen, auseinander driften, dann erneut zusammen finden. Alles wird professionell durch ein dynamisches Lichtspiel sowie Propagandamusik in Szene gesetzt. Die unglaubliche Präzision, mit der alles ineinander greift, fasziniert mich. Jeder Szenen- oder Farbenwechsel, quasi jedes Bühnenbild ist perfekt und bis ins letzte Detail durchdacht.

Ein Ausschnitt der Massgames 2019 im Zeitraffer

Ich sehe ein viel höheres Level als bei Eröffnungszeremonien von Olympischen Spielen oder Fußballweltmeisterschaften, die ich nur als passiver Fernsehzuschauer kenne. Es war mit Abstand die beste Performance, die ich je gesehen habe. Jana vergleicht diesen optischen mit dem geschmacklichen Genuss Schweizer Schokolade. Wer die einmal probiert hat, will danach auch nichts anders mehr naschen. Das Programm dauert etwa eineinhalb Stunden und endet mit einem Feuerwerk. Es war der fulminante Abschluss dieses Festtages und unseres Aufenthaltes in der Hauptstadt. 

Auch Wauwaus müssen mal schlafen.

Am Ende dieses ereignisreichen Tages und der Reise für die meisten unserer Gruppe lassen wir gemeinsam bei Wein und Bier im Roof Top Restaurant, in der 47. Etage unseres Hochhaushotels, die letzten Tage Revue passieren. Es besteht schnell Einigkeit, das Vieles lange in Erinnerung bleiben wird. Das Jana und ich gerade in Nordkorea so viele Gelegenheiten zum Tanzen hatten, die wir auch genutzt haben, gehört zu den Überraschungen dieser Reise.

Im Auge des Taifuns

„Wie bitte? Nach Nordkorea? Was da alles passieren kann! Siehst du kein Fernsehen?“ Die besorgten Ausrufe der Daheimgebliebenen nährten auch in uns einige Zweifel. Doch unsere Zuversicht und das Vertrauen in eine etablierte und jahrzehntelang auf dieses Land spezialisierte Reiseagentur haben uns die Entscheidung am Ende leicht gemacht. Die Neugier auf dieses abgeschottete Land verbunden mit der Chance, eigene Eindrücke und Erfahrungen zu sammeln, drängen Vorbehalte in den Hintergrund. Die Mutigen sind immer die mit den besten Geschichten – also los!

Mit dem Zug von Peking nach Pjöngjang
Trotz Regen wollen wir noch ein Bild vor diesem Triumphbogen mitten in Pjöngjang

In der Mitte unserer achttägigen Reise erreicht der Taifun Lingling aus dem Süden kommend mit etwa 130 Stundenkilometern die Hauptstadt Pjöngjang und somit auch das einzige internationale Hochhaushotel, in dem die meisten ausländischen Gäste untergebracht werden – so auch wir. Die Bevölkerung hat ab Mittag arbeits-/ dienst- oder schulfrei und soll zuhause bleiben. Sämtliche für die Touristen geplanten Aktivitäten müssen ruhen. Der Vormittag war regenreich, böig und ziemlich ungemütlich. Wenn sich die Tropfen horizontal durch die Luft bewegen, hilft nur ein Ganzkörperkondom, um trocken zu bleiben. Das hatten wir nicht. 

Wir sind im Hotel und haben quasi ein vom Wetter initiierten und von der Partei diktierten  Stubenarrest. Während das staatliche Fernsehen in Dauerschleife vor den Folgen des Sturms warnt, schaue ich aus dem Fenster in der 34. Etage – es sieht ruhig aus. Der Himmel direkt über uns lässt ein paar Sonnenstrahlen durch, wirkt jedoch in wenigen Kilometern Entfernung schwarz und bedrohlich. Die Flaggen vor dem Hotel hängen schlaff herunter, kein Lüftchen weht. Auch der nahegelegene Fluss zeigt keine größeren Wellenbewegungen. Obwohl ich ein kompletter Meteorologie-Laie bin, weiss ich, dass dies kein Widerspruch sein muss. Wir befinden uns möglicherweise im Zentrum eines tropischen Wirbelsturmes – im „Auge“ des Taifuns. Der Durchzug des Auges wurde früher oft mit dem Ende des Unwetters verwechselt; Menschen, die sich währenddessen ins Freie begaben, wurden häufig vom erneut und schnell einsetzenden Sturm überrascht. 

Mir schießt ein Vergleich durch den Kopf: ich reise hier durch dieses so eigenartige Land als würde ich mich im Auge eines Taifuns befinden. Ich beobachte aus ruhiger Position alles um mich herum: die spannungsreichen Gegensätze zwischen dem von unseren Reiseleitern vermittelten offiziellen Bild Nordkoreas und dem, was wir trotz aller Filter persönlich wahrnehmen. Ich verweile in einem deutlich über dem Landesstandard ausgestattetem Hotel, während ausserhalb des luxuriösen Gästehauses das wahre Leben in all seinen Facetten pulsiert und über den Köpfen vieler Menschen schwarze Regenwolken hängen.

Der koreanische Dichter Younghill Kann beschrieb in seinem Roman „Das Grasdach“ sein Korea als Land der Morgenstille. Ich finde, das ist ein sehr poesievoller Namen für eine Region, in der ich eher Stillstand – von morgens bis abends –  spüre: politisch, ökonomisch und kulturell. Bin ich im Auge des Taifuns oder ist es hier überall so? Was passiert, wenn ich nur ein paar Schritte gehe, meinen Standort und damit auch die Perspektive ändere? Spüre ich dann einen Wind, der Veränderung mit sich bringt? 

Eigenständiges Erkunden ist keinem Touristen vergönnt. Wir haben ein enges Programm, welches keine individuellen Perspektivwechsel erlaubt. Der Reisebus chauffiert unsere Gruppe durch Pjöngjang, der etwa drei Millionen Einwohner zählenden Hauptstadt des Landes. Die Strassen und Plätze sind modern, das heisst beleuchtet, gross, breit und…..leer. Der einsam auf der Kreuzung stehende Verkehrspolizist regelt, was nicht geregelt werden muss. Die Wohnhäuser, Schulen, öffentliche Gebäude und Parks scheinen durchaus zeitgemäss und in gutem Zustand zu sein. Es fehlen allerdings historische Gebäude und leuchtende Farben. Das Grau in all seinen Abstufungen kommt mir aus meiner Kindheit vertraut vor.

Wir besuchen zwei Produktionsbetriebe, zumindest werden sie uns so angekündigt. Wir schauen bei den Herstellern des Ginseng-Schnapses, sowie in einer Kosmetikfirma vorbei. Uns soll gezeigt werden, welche ökonomische Kraft sich in diesem Land in den letzten Jahren entwickelt hat.

Vor jedem Betrieb steht ein Propagandamosaik, welches einen der Kims bei seinen „Anweisungen vor Ort“ zeigt.

Bevor wir mit der Besichtigung beginnen, kleiden wir uns mit weissen Kitteln oder schlüpfen mit unseren Schuhen in kleine Plastiktüten. Nach der Verkleidung sehen wir aus wir wie Professor Brinkmann mit seiner Schwester aus der Schwarzwaldklinik.

Welche Geheimnisse werden heute gelüftet? Wir werden jeweils durch gläserne Gänge geführt. Dahinter sehen wir ebenfalls bekittelte und mit Häubchen bedeckte Arbeiterinnen, die einerseits die Abfüllanlage bedienen oder anderseits die Sortiermaschine für die Flaschen oder Kosmetiktuben in die richtige Reihe bringen, damit diese dann in passende Kartons (per Hand) verpackt werden können. Was wir sehen, hat nichts mit dem eigentlichen Herstellungsprozess der Produkte zu tun. Wir dürfen hinter einer Glasfront als Zuschauer der letzten Fertigungsstufe, der Endverpackung, beiwohnen. Zwischen uns und den anderen Gästen wechseln fragende Blicke, warum wir uns für diese paar Minuten hinter dicken Scheiben eigentlich extra Bekitteln mussten. 

Beim Verlassen des Kosmetikbetriebes fällt uns eine Tafel auf, die zeigt, dass sämtliche Mitarbeiterinnen die vorgegebenen Planziele erfüllt oder übererfüllt haben. Gesehen haben wir nur wenige von diesen fleissigen Bienchen. Überhaupt wirken diese Betriebe eher wie Showrooms, in denen die Produkte zwar präsentiert, jedoch nicht wirklich hergestellt werden. Irgendwie wirkt alles verwaist. Über die Gründe können wir nur spekulieren. Glaubhafte Antworten bekommen wir von unseren koreanischen Tourbegleitern nicht. Geht es nach ihnen, ist das normal.

Sehe ich aus dem Busfenster, fallen mir die vielen Landarbeiter auf, die einfach bekleidet mit einem Ochsenkarren in Richtung der Felder unterwegs sind. Manchmal sitzen sie auch nur am Strassenrand in der für Asien so typischen tiefen Hockhaltung, die bei mir nach wenigen Minuten zu muskelkaterähnlichen Schmerzen führen würde. Bei ihnen sieht es so selbstverständlich wie entspannt aus. Auffällig ist, dass jeder noch so kleine Grünstreifen als Anbaufläche für Getreide, Gemüse oder Obst verwendet wird. Von Traktoren oder anderem technischen Gerät, welches die harte körperliche Arbeit der Bauern entlasten könnte, nehme ich nichts wahr. In ihren Händen sehe ich Sensen, Sicheln, Hacken und Spaten. Ihre Körper lassen sich mit dem Ausdruck „vom Leben gezeichnet“ beschreiben. Manchmal erhasche ich, von meinem bequemen Bussessel aus, auch einen Blick in ihre Gesichter. Ich schaue in harte, stolze und demütige Gesichtszüge. 

Das Auge des Taifuns, die Ruhe im Zentrum, ist eben nicht die ganze Wahrheit, nur ein Teil von ihr. So wie das mir gezeigte offizielle Bild der Wirtschaft Nordkoreas nicht falsch sein muss, aber eben nur ein Teil des Gesamtbildes ist. Neben der modernen Hauptstadt und den Produktionsbetrieben sehe ich Arbeitsbedingungen, die wie aus der Frühzeit des Kapitalismus anmuten.

Unserer international gemischten Gruppe von zwanzig Reisenden wurden ein Tour-Begleiter des Veranstalters, sowie zwei Guides von koreanischer Seite zugeordnet. Auf dem Weg zur nächsten Attraktion, der Metro in Pjöngjang, erzählen sie uns von den Meisterleistungen Kim Il Sungs und seiner Sippe beim Bau und der Fertigstellung dieses technischen Glanzstückes. Uns wird erklärt, das ein Metroticket umgerechnet nur einen halben Eurocent kostet. Das wäre sehr günstig auch im weltweiten Vergleich. Jana fragt, wie hoch in unserem Gastgeberland das durchschnittliche Einkommen ist, um diesen in der Tat unschlagbaren Preis mit der Kaufkraft der hier lebenden Menschen zu vergleichen. Sie erhält keine Antwort. Auf Nachfrage wird ihre Frage somit zweifach einfach ignoriert. Tja….naja solche Details sind ja auch nicht wichtig. Schließlich kommt es auf das grosse Ganze an.

Wir betreten eine der in den siebziger Jahren gebauten Metrostationen. Die Bahnsteige liegen, in Anlehnung an die Bauweise anderer kommunistischer Länder, teilweise bis hundert Mieter tief. So können diese bei einem Fliegeralarm auch als Luftschutz- oder Atombunker dienen. Mit der Rolltreppe brauchen wir einige Minuten bis wir am Ziel angekommen sind. Die Namen der insgesamt 16 Stationen auf den zwei Linien geben uns keinen Hinweis darauf, wo wir uns eigentlich befinden, sondern sind propagandistische Erinnerungen an die historische Mission des Landes. So heissen die Haltestellen „Wiederauferstehung“, „Blühendes Licht“, „Triumphale Wiederkunft“, „Vereinigung“ oder natürlich „Sieg“.

Als wohltuend empfinde ich die werbefreie Zone in der Metro und generell im Land. Das Auge und der Geist dürfen ruhen. Der Farbenlärm oder die permanente Beschallung von torgrossen Videoleinwänden kommen hier nicht vor. Ausnahmen bilden die Statuen, Bilder und Skulpturen der unerschöpflich-kitschigen Propagandakunst. Es gibt Momente, in denen ich mich der Anziehungskraft dieser Bilder nur schwer entziehen kann. Sie wirken auf eine bestimmte Art religiös auf mich. Es gibt Bilder, in denen einer oder mehrere der hiesigen ehemaligen oder aktuellen Staatslenker ohne weiteres durch Propheten oder Heilige aus den bekannten Religionen ersetzt werden könnten und das Bild wäre stimmig.

Wir betreten die U-Bahn und setzen uns zwischen die Pjöngjanger. Unsere buntgemischte Truppe wird nicht nur von den Tourbegleitern, sondern auch von den Mitreisenden genau beobachtet. Es geschieht nicht offen. Niemand starrt uns an. Doch ich spüre die prüfenden und zugleich stolzen Blicke, als ob ich von Detektiven beobachtet werde würde. Jana lächelt ihre Sitznachbarin an und bedankt sich dafür, das diese etwas zur Seite rutscht. Sie erwidert mit starrem Blick, um ihn sofort wieder abzuwenden. Aus dem frustrierten Berliner S-Bahn-Milieu kommt mir das durchaus vertraut vor. Jedoch empfinde ich hier mehr. Die sonst so universelle Sprache der freundlichen Mimik und Gestik verfängt hier nicht. Niemand lächelt zurück, wenn wir lächeln. 

Ich versuche, dieses abwehrende, ängstliche Verhalten zu verstehen. Wer, so wie ich, in der ehemaligen DDR aufgewachsen ist, kann solche Verhaltensweisen gegenüber Besuchern aus den Ländern des „Klassenfeindes“  bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen. Nordkoreanern ist es streng verboten, spontan mit Ausländern ins Gespräch zu kommen. Ein Lächeln oder jede Art von Freundlichkeit müssten sie eventuell im Nachhinein erklären. Die Menschen fühlen sich deshalb einfach sicherer, wenn sie einen Kontakt gar nicht erst entstehen lassen. Offiziell wird das allerdings nicht bestätigt. Unser Begleiter von der Reiseagentur nickt jedoch auf meine Frage hin. Ob und wenn ja welche Folgen ein Verstoss gegen diese Regel für die Betroffenen haben kann, lässt sich nur spekulieren. Jedoch gehe ich davon aus, das es dafür keinen Orden für internationale Freundschaft geben dürfte.

Die Verfassung Nordkoreas garantiert in Abschnitt V (Grundrechte und Grundpflichten) ihren Bürgern Reise-, Meinungs-, Presse-, Versammlungs-, Demonstrations- und Vereinigungsfreiheit. Das wahre Leben sieht jedoch vollständig gegensätzlich aus. Es gibt nur eine Handvoll staatliche Propagandasender, kein Internet, keine freie Berufs- oder Studienwahl, eine sehr überschaubare Warenwelt, keine freie Wahl des Wohnortes und Kritik an bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen führt zu existenzieller Bedrohung für die ganze Familie und zur Einweisung in Straf -bzw. Umerziehungslager (mehr hierzu bei Amnesty International). Von Kindesbeinen an ist das Leben vorbestimmt durch klare Verhaltensregeln, Pflichten und die mantraartigen Wiederholungen der Weisheiten der unantastbaren Führer. Da ist er wieder dieser Gegensatz zwischen Ruhe und Sturm oder Aufrichtigkeit und Falschheit.

Der Staatsgründer Kim Il Sung gilt als der Treiber der sogenannten Juche-Ideologie. Dahinter steckt die Idee, dass zur Umgestaltung der Gesellschaft ein besonderes Bewusstsein entwickelt und kultiviert werden muss. Um das „chuch’e“ (Juche) zu erreichen, braucht das koreanische Volk seinen großen Führer. Nur so kann die ganze Gesellschaft als einheitlicher sozioökonomischer Organismus das Juche ausüben, also in der Innen- und Außenpolitik selbständig auftreten und handeln. Die drei Prinzipien des Juche lauten: 1. politische Souveränität, 2. wirtschaftliche Eigenversorgung, 3. militärische Eigenständigkeit.

Die jahrhundertelange Besetzung der koreanischen Halbinsel durch fremde Mächte (Russland, China, Japan und die USA) mit dem Versuch, den Koreanern ihre Identität mit teilweise brutalsten Mitteln zu nehmen, ist die Hauptursache für eine tiefverwurzelte Angst vor jeglicher Fremdbestimmung. Diese gilt es um jeden Preis zu verhindern. Das scheint alles zu rechtfertigen, was durch Kim Il Sung und seine familiären sowie politischen Nachfahren in den letzten 70 Jahren zu verantworten ist.

„Wir müssen verstehen und daran glauben, das der Führer das Zentrum des Lebens ist und dass wir nur, wenn wir organisatorisch, ideologisch und als Genossen mit ihm verbunden sind, eine unsterbliche soziopolitische Integrität erreichen können.“ 

Kim Il Sung

Die Menschen in Nordkorea zahlen einen hohen Preis für ihre politische, wirtschaftliche und militärische Autonomie, den ihre heiligen Führer allerdings nicht bereit sind, aufzubringen. Die Entbehrungen der Bevölkerung gelten nicht für ihre Elite.

Wieder spüre ich diesen Gegensatz, diesmal ist er politisch. Ich erfahre zum zweiten Mal in meinem Leben den Unterschied zwischen Diktatur und Demokratie. Natürlich setze ich die ehemalige DDR nicht mit Nordkorea in allen Ausprägungen, die eine Diktatur haben kann, gleich. Dazu ging es den Menschen in der früheren DDR wirtschaftlich wesentlich besser, politische Verfolgung war nur ausnahmsweise lebensbedrohlich und der Personenkult vergleichsweise moderat. 

Ich frage mich, was mit den meisten der 24 Millionen Nordkoreaner mental passiert, wenn die Abschottung beendet wird, das Land sich öffnet für all das, was im Rest der Welt trotz bestehender Unterschiede im Detail, als wirtschaftlicher, politischer und kultureller Masstab gilt. Wenn mich die Lektüre von Büchern etwas gelehrt hat, dann ist es, das Nichts ewig hält, auch nicht die Dynastie der Kims. Die wirtschaftlichen und politischen Veränderungen werden irgendwann kommen und dann fundamental sein. Freude wird sich mit Ängsten mischen. Viele Ältere werden die Veränderungen als Krise wahrnehmen. Jüngere werden die neuen Freiheiten schätzen und davon am Meisten profitieren. 

Ich erinnere mich, das sich in der ehemaligen DDR die Menschen oft ins Private zurückzogen. Michael Nast („Vom Sinn unseres Lebens“/2018) beschrieb dies so: „Dort wurden Freundschaften und Beziehungen gepflegt. Es ging darum, füreinander da zu sein. Es ging um ein Miteinander, nicht um ein Gegeneinander. Wenn man menschliche Werte lebte, verstand man sich als erfolgreich im Leben. Sie zu kultivieren war ein Statussymbol, denn Reichtum und Besitz hatte das System nicht zu bieten.“ Ich vermute, das viele Menschen in Nordkorea (vielleicht unbewusst) Ähnliches erfahren. Dieses Miteinander sollten sie sich bewahren. Das ist ihr Rückzugsort, das ist ihre kleine ruhige Welt, denn das Leben da draussen gleicht einem Taifun.