Zwei Berliner auf Bali

Lange hatte ich mich schon darauf gefreut, Maximilian wieder zu sehen. Mein Flieger aus Jakarta landet pünktlich auf Bali. Nur ein paar Schritte vom Inlands- zum Auslandsterminal, eine Tasse Kaffee und ich würde ihn in die Arme nehmen können. Dieser grosse Kerl, erst siebzehn aber doch schon so reif und erwachsen wirkend wie ein Marinekadett mit Schulterklappen. Ungewohnt für mich, zu jemanden aufzuschauen zu müssen. Aber bei ihm macht es mir nichts aus – im Gegenteil: ich freue mich, dass er meine Einladung, uns für etwa zehn Tage auf unserer Reise zu begleiten, angenommen hat. Manchmal wünsche ich mir, er wäre nicht so teenagermässig cool und würde mit mir mehr über seine Wünsche, Hoffnungen und Gefühle sprechen. Dann halte ich kurz inne und erinnere mich: ich war genauso….wahrscheinlich sogar noch abgeklärter nach aussen wirkend. Doch wünsche ich mir oft seine Nähe. Wenn er mir dann gegenüber sitzt, bin ich überrascht, wie schwer es mir fällt, an den Maximilian hinter der Coolness heran zu kommen. Ich erinnere mich an das, was er mir von sich erzählt, seine Freunde, Lehrer, die Musik, die er mag oder das letzte Buch, das er las. Was denkt er? Worüber freut er sich? Ist er manchmal traurig und wenn ja, warum? Kann ich ihn irgendwie unterstützen? Wir haben uns vor der grossen Reise alle paar Monate, vielleicht sieben bis achtmal im Jahr gesehen. Sein Lebensmittelpunkt ist am Stadtrand von Berlin. Das ist nicht weit von Hamburg, jedoch weit genug, um spontane Treffen am Nachmittag oder Abend auszuschliessen. Ihn zu sehen, ist immer ein Highlight für mich, auch wenn wir nur zusammensitzen und Kaffee trinken oder das von ihm geliebte Sushi gemeinsam verspeisen. Heute kann ich meine eigene Mutter besser verstehen, wenn sie sich wünscht, das wir uns öfter sehen. Ihr scheint es mit mir ähnlich zu gehen, wie mir mit meinem Sohn.

Auf der Anzeigetafel im International Airport Denpasar wird angezeigt, das Maximilians Flieger zweieinhalb Stunden Verspätung hat und damit erst kurz vor zwei Uhr morgens landen wird. Zum Glück gibt es Kaffee. Am Ende wird es drei Uhr morgens bis ich in der Ankunftshalle meine Arme nach oben strecken und ihn an mich drücken kann. Jetzt möchte ich schnell mit dem vorbestellten Taxi zur Unterkunft. Max möchte jedoch erst einmal einen Kaffee – der Apfel fällt nicht weit vom Stamm – grösstes Verständnis meinerseits. Es liegt noch etwa eine Stunde Fahrtzeit bis ins Bamboo Paradise in Padang Bai vor uns. Das Gästehaus ist informiert, alles geht gut und wir fallen kurz nach vier Uhr morgens erschöpft ins Bett.

Ich geniesse die Zeit mit Maximilian. Wir schauen uns die nahegelegenen Tempel an, gönnen uns eine Massage, unternehmen Schnorchel-Ausflüge in die benachbarten Buchten und geniessen die wunderbare kulinarische Mischung aus asiatischer und westlicher Küche.

Das habe ich seit Singapur wirklich vermisst: frische Salate, eine grosse Obstauswahl, vegetarische Gerichte, die nicht nur aus frittiertem Gemüsereis oder – nudeln bestehen. Dazu gibt es jede Menge hippe Cafés und Bars, die zu mehr Pausen verleiten als eigentlich nötig wären. 

Auf einem Tagesausflug lernen wir einen Schweizer Studenten kennen, der sich mit uns das Taxi teilt, welches uns zu verschiedenen Sehenswürdigkeiten im Osten von Bali führt.

Wir besuchen dabei auch die bekannte hinduistische Pura-Lempuyang-Luhur-Tempelanlage. Diese umfasst mehrere grosse und kleine Tempel auf dem Berg Lempuyang auf einer Höhe zwischen 600 und 1000 Meter über dem Meeresspiegel. Besonders berühmt geworden ist dieser Ort durch den Blick durch das sogenannte Himmelstor auf den Vulkan Mount Agung. Eine Schlange von Touristen aus aller Welt zeigt an, das hier etwas ganz ausserordentliches passieren muss. Sie warten geduldig bis zu zwei Stunden, um dann in wenigen Sekunden vor dem Himmelstor mehr oder weniger alberne Posen wie ausgebreitete Arme, gegenseitige Umarmungen, den Yogabaum, den Yogasitz, den Denker sowie Gruppenbilder mit Daumen hoch oder Händen zu Herzen geformt einzunehmen. Und sie hüpfen – alle hüpfen sie. 

Wir verzichten auf die zwei stündige Wartezeit – ein Selfie tut´s auch.

Das eigentlich Auffällige ist jedoch, das die Fotos einen in der Realität nicht vorhandenen See vortäuschen, der das Motiv spiegelt. Dieser Effekt wird dadurch hervorgerufen, das während des Fotografierens ein Spiegel unter die Fotolinse gehalten wird. Dafür drücken die Besucher einem Mann einen Geldschein in die Hand, geben ihm ihr Telefon und dieser macht dann hintereinanderweg mehrere Aufnahmen. Er schreit und peitscht verbal zu Posinghochleistungen: Mach˙ne Pose, noch ne Pose und jetzt spriiiiiiing. Alle halten sich folgsam an die gebellten Befehle.

Auf Instagram sollen tausende Fotos davon zu finden sein, die dann eben gefälscht sind. Tatsächlich existiert hier ein eher schlichter grauer Steinfussboden. Imposant ist die Tempelanlage trotzdem. Bei meinem zweiten Besuch dort etwa zehn Tage später mit Jana waren wir auf dem oberen Teil der Tempelanlage. Es braucht etwa ein halbe Stunde zu Fuss bergauf. Der Lohn ist fast absolute Stille und nur wenige, überwiegend einheimische Besucher. Dafür wird man mit einem wunderbaren Ausblick in die Ferne belohnt.

Eingesammelter Müll nach unserem Schnorchelausflug. Was hat die Verpackung von Katzenstreu im Meer verloren?

Wer sich jedoch in die Nähe umschaut, sieht, wie leider sehr oft in Südostasien, sofort jede Menge Verpackungsmüll herumliegen. Hier ist es ganz besonders offensichtlich. Die bunten Plastikfolien der Kekse, die Dosen der Erfrischungsgetränke, die Wasserflaschen – was die kleinen Läden an der Strasse verkaufen, wird, sobald der Inhalt im Magen der Kunden verschwunden ist, einfach den Hang heruntergeworfen. Die lokalen Behörden und die Bevölkerung werden nicht Herr über ihren eigenen Müll. Ist es da vertretbar, dass Länder wie Deutschland ihren Abfall nach Indonesien exportieren?  

Die kleine Stadt Ubud ist der frühere Prenzlauer Berg von Bali. Tempel, Galerien, Kunsthandwerk, Cafés, Restaurants und eine üppige Anzahl von Hotels, Hostels und….. Touristen. An einem Tag unternehmen wir eine Wanderung auf dem sogenannten Campuhan Ridge Walk, ein Spazierweg unweit des Monkey Forests, den wir bewusst meiden. Die Anhöhe entspricht der Steigung der Müggelberge in Berlin-Köpenick, also eher keine sportliche Herausforderung. Dafür können wir auf dem etwa zweistündigen Spaziergang viele lokale Besucher sehen, flanieren vorbei an Kunsthandwerkläden oder luxuriösen Wellness-Oasen. Ganz nach unserem Geschmack, ihr ahnt es bereits, ist die Anzahl kleiner netter Cafés. Wir machen in einem von ihnen eine Pause und schiessen ein paar Fotos.

Nachdem Jana die Vater-Sohn-Zweisamkeit ergänzt, besuchen wir gemeinsam an der südwestlichen Spitze Balis auf der Bukit Halbinsel den Uluwatu Tempel auf einer hohen Klippe, umgeben von dem an diesem Abend ruhigen indischen Ozean. Inmitten der von zahlreichen Makakken bewachten Tempelanlage werden wir Zeuge einer allabendlich aufgeführten Tanzveranstaltung. In einem an einem alten griechischem Theater erinnernden Rund ist der traditionelle Kecak-Feuertanz zu bewundern. Über 50 Sänger sitzen im Kreis und hypnotisieren mit ihrem Cak-Cak-Gesang sich selbst und das Publikum. Die Tänzerinnen und Tänzer überraschen mit ihren prachtvollen Kostümen, wie beispielsweise der weisse Affenkönig Hannoman, der sich in der Schlussszene vor der Opferung durch das Feuer retten kann. Auch wenn es sich um eine stark touristische Veranstaltung handelt, kann ich mich dem Zauber der Darbietung bei Sonnenuntergang vor dieser Kulisse nicht entziehen. Die Stimmung ist einfach wunderschön.

Dankbar für die vielen gemeinsamen Stunden und Erlebnisse mit Maximilian, fahren wir wieder zum Flughafen, an dem ich ihn abgeholt habe. Viel zu schnell ist die Zeit mit ihm vorüber. Ich spüre beim Abschied wie meine Augen feucht werden. Er hat nichts bemerkt, glaube ich. Seltsam, das ich mit fortschreitendem Alter sentimentaler zu werden scheine. Es gibt drei Menschen auf der Welt, von denen ich hoffe, das sie mich überleben werden, da ich nicht weiss, wie ich es ohne sie aushalten würde: Jana, meine Mama und Maximilian.

Die Tauchspots an den Küsten von Bali sind traumhaft. Jana und ich beschliessen, unseren in Malaysia frisch erworbenen Tauchschein zu nutzen, um hier mehr praktische Erfahrungen zu sammeln. Paartherapeuten weisen daraufhin, das eine der wesentlichen Erfolgsfaktoren für langfristig gute Beziehungen unter anderem ein gemeinsames Hobby ist. Super – das haben wir mit dem Tauchen definitiv gefunden. Vor allem, weil wir es aus Sicherheitsgründen auch paarweise durchführen sollen. So hat es uns Kim, unsere Tauchlehrerin, beigebracht. 

Kommunikation unter Wasser beschränkt sich auf Gestik und Zunge herausstrecken. .

Mein Tipp an alle Männer, die noch nach einem gemeinsamen Hobby suchen: Unter Wasser können auch eure Frauen nicht reden (Haha – kleiner Scherz). Aber davon ganz abgesehen, ist es eines der tollsten Hobbys in der Natur, das ich mir vorstellen kann. Ich geniesse es so sehr!

In Tulamben im Nordosten Balis gehen wir zum ersten Mal Wrack- und Nachttauchen. Die grössten und eindrucksvollsten Meeresbewohner sehen wir nachts am Wrack, da sich viele Fische zum Schutz vor noch grösseren Räubern dort zum Schlafen einfinden. Die Stimmung bei einem Nachttauchgang ist unbeschreiblich. Erinnert ihr euch noch an eure erste Nachtwanderung auf Klassenfahrt? Genau wie damals fühlte ich mich. Alles sieht nachts irgendwie anders aus. Am meisten hat mich beeindruckt wie ruhig und friedlich alles wirkt. Es scheint wie eine stille Übereinkunft zwischen allen Meeresbewohnern und uns Gästen, das heute Nacht Frieden herrscht. Egal was über Wasser passiert, hier bist du sicher. Trotz 18 Metern Wasser über mir, fühlte ich mich selten so entspannt.

Kurz vor unserer Abreise wechseln wir noch einmal den Ort, um noch ein anderes Tauchgebiet kennen zu lernen. Ich kehre zurück nach Padangbai, wo ich bereits die ersten Tage mit Maximilian verbracht habe. Wir haben nur einen Tag und buchen eine spanische Tauchlehrerin, die mit uns und ihrer über 60jährigen (!) Mutter zwei Tauchgänge an einem Tag absolviert. Das Boot fährt uns über eine Stunde vom Hafen entfernt zum Mantapoint. Nach dem Eintauchen dauert es dann nicht mehr lang, bis wir die ersten drei bis vier Meter langen Mantarochen sehen.

Sie kommen sehr nah an uns heran. Unter ihnen zu schwimmen und ihre majestätisch wirkenden Flossenschwünge zu beobachten, ist ein atemberaubendes Gefühl. Ich bin zutiefst ergriffen von der Anmut ihrer Bewegungen.

Die Zeit auf Bali geht zu Ende. Die Insel ist so vielfältig wie ihr Ruf etwas zweifelhaft. Natürlich ist hier auch der Massentourismus zuhause. Dem kann man allerdings ziemlich gut aus dem Weg gehen. Die Insel ist gross genug und bietet alles, was mein Herz begehrt. Es war für mich bereits der zweite Besuch. Ich werde wieder kommen, auch wenn das länger dauern kann.

Wo es brüllt und rülpst

Der Taxifahrer findet uns. Es ist für ihn wesentlich leichter, zwei grosse hellhäutige Europäer auszumachen, als für uns, sein Auto in der Masse der Fahrzeuge wieder zu finden, dessen Nummernschild wir uns wegen der ganzen Aufregung noch nicht einmal gemerkt haben. Schon von Weitem hören wir ein stetiges Hupen. Es verrät uns, dass unser Fahrer mindestens genauso erleichtert zu sein scheint, uns gefunden zu haben, wie wir es gerade sind.

Wir steigen schnell ein, verlassen Jakarta und fahren 140 Kilometer nach Süden. Es geht ununterbrochen durch kleine Städte und Dörfer. Es gibt auf der ganzen Strecke keinen Abschnitt, der nicht besiedelt ist.

Als wir nach sechs Stunden endlich an unserem Ziel ankommen, ist es stockdunkel und alle tagaktiven Bewohner sind schon längst in ihren Betten. Dennoch werden wir freundlich von Hanneke begrüsst und erhalten eine erste kleine Einweisung von ihr. Hier ist die Küche, dort sind die Toiletten, hier der Frauen – und dort der Männerschlafsaal. Wir fallen todmüde in unsere zugewiesenen Betten und schlafen schnell sowie voller Vorfreude auf das, was kommt ein. 

Das Cikananga Wildlife Center ist eine gemeinnützige Organisation, die sich dem Schutz der in Indonesien lebenden Wildtiere verschrieben hat (Link Homepage). Es wurde 2001 gegründet und beherbergt rund 500 Individuen.  Dabei handelt es sich um Tiere, die von ignoranten Menschen aus ihrer natürlichen Umgebung herausgerissen wurden, sei es, um sie als Haustier zu halten, um sich mit ihrem Fell, ihren Zähne oder Klauen zu schmücken oder um ihre Organe in der absurden Hoffnung auf eine wundersame Heilung zu essen.

Heute im Jahr 2019, trotz der zunehmenden Bildung der Menschen, trotz all der Erkenntnisse moderner Medizin – blüht der Handel mit exotischen Tieren. Die meisten Käufer befinden sich in Asien selbst. Wenn ich das Leid der Tiere sehe, zweifele ich an der Menschheit. 

Nur das mein Zweifeln niemandem etwas nützt. Ich muss etwas tun. „Sei du die Veränderung, die du in der Welt sehen willst.“ Ein Spruch der Gandhi zugeschrieben wird und den ich als einen meiner Leitsätze betrachte. Und so spenden wir erneut einen Teil unserer Zeit, Arbeitskraft und Geld, um die Veränderung zu sein, die wir gerne in der Welt sehen würden.

  • Einige der hier aufgenommen Tiere kennen wir: Affen, Krokodile, Schildkröten und Kakadus. 
  • Von anderen haben wir noch nie etwas gehört: Kasuare (wer sie einmal erlebt hat, wird sie nie vergessen).
  • Viele sind bereits vom Aussterben bedroht: Gürteltiere, Nebelparder und Slow Loris. 
  • Anderen steht dieses Schicksal kurz bevor wie zum Beispiel dem Zwergotter (es ist in gewissen Kreisen gerade „hipp“, sich einen Otter als Haustier zu halten; mehr dazu hier: Nationalgeographie ).
Ein Hornbill – kräftig in den Schminktopf gefallen. Mit Erfolg – er ist das meistfotografierte Tier im Center.

Am ersten Tag bekommen wir nun bei Tageslicht eine ausführliche Einführung von der robusten Dame, die uns am Vorabend so herzlich empfangen hat. Hanneke ist eine nicht mehr ganz junge Holländerin und sie ist die Ansprechpartnerin für alle Freiwilligen hier. Bemerkenswert ist, dass sie mit über 50 Jahren noch eine Ausbildung im Wildtiermanagement gemacht, dann ihr Leben um 180 Grad verändert hat, um hier auf Java unter den einfachsten Bedingungen für diese Organisation zu arbeiten. „Nein“, verrät sie uns „bereut hat sie die Entscheidung nicht“. 

Bei unserem Rundgang lernen wir gleich einige der festangestellten Pfleger, der Tiere und die auf uns zu kommenden Arbeiten kennen. Hanneke freut sich, dass wir bereits Erfahrungen bei den Sonnenbären gesammelt haben und dadurch die Routine eines Tierpflegers kennen –  auch hier herrscht eine strenge „Tiere-nicht-anfassen“ Politik. Auch hier verbringen wir die ersten Stunden am Morgen mit der Futterzubereitung. Danach folgt die Reinigung der Gehege. Die Nachmittagsstunden bringen wir oft damit zu, Beschäftigungsspielzeug für die Tiere zu basteln. Soweit ähneln sich die Abläufe zu unserem letzten Freiwilligeneinsatz. 

Dennoch merken wir schnell den Unterschied zu dem Sunbear-Center auf Borneo. Während die Auffangstation für die Sonnenbären finanziell recht gut da steht, fehlt es hier ganz offensichtlich an vielem. Es gibt für all diese Tiere nur eine Handvoll festangestellte Pfleger. Die Geräte und Werkzeuge der täglichen Arbeit wurden alle schon mehrmals repariert, vieles ging kaputt oder verloren und konnte nicht wieder ersetzt werden. Einige der Gehege sind recht klein und ziemlich alt. Trotzdem geht es den Tieren hier bedeutend besser, als dort, wo sie vorher waren. Hier bekommen sie artgerechtes Futter, die Gesellschaft anderer ihrer Spezies und zumindest so viel Platz, dass sie sich bewegen können. Und was am wichtigsten ist: hier dürfen sie leben.

Unser Arbeitstag beginnt um 7 Uhr früh – Obst und Gemüse maul- beziehungsweise schnabelgerecht zu schnippeln, empfand ich schon immer als meditativ. Deshalb sitze ich gerne auf dem kleinen roten Plastikhocker und mache mich daran, den grossen blauen Korb vor mir zu füllen. Er ist für die Kasuare und die lieben circa 3 Zentimeter grosse Bananenstücke (gerne auch mit Schale) sowie Apfel-, Melonen-, Birnen-, Kaki- oder gekochte Süsskartoffelstückchen. Es dauert etwa eine Stunde bis der Korb voll ist. Danach werde ich Zeuge, wie diese Tiere all die so liebevoll von mir geschnittenen Portionen ratzfatz mit ihren Schnäbeln verschlingen.

Diesen Vögeln sollte man stets mit Respekt begegnen. Ihre Schnäbel und ihre Füsse sind gefährliche Waffen und können einen übermütigen Menschen auch schon mal töten.

Nachdem alle erstmal versorgt sind geht es nun an das Reinigen. Wir Freiwilligen wechseln uns täglich ab, damit jeder mal die weniger dreckigen und jeder auch mal die stark verschmutzten Gehege reinigen darf. Es gibt Tiere, die sind sehr sauber und machen ihr Geschäft nur in eine Ecke und es gibt Schmutzfinken, die hinterlassen jeden Tag einen wahren Saustall. Zudem ist es nicht von der Hand zu weisen, dass die Stoffwechselendprodukte der Fleischfresser wesentlich unangenehmer riechen, als die eines sich vorwiegend von Obst und Gemüse ernährenden Bären. Wir bekommen Masken, damit uns nicht allzu übel wird. 

Am anstrengendsten empfinde ich jedoch die Reinigung der Gehege der Siamang. Im Wildlife Center leben aktuell vier dieser Primaten, die zur Familie der Gibbons gehören. Charakteristisch für diese Tiere ist ihr grosser, aufblasbarer Kehlsack mit dem sie ohrenbetäubende „Gesänge“ von sich geben können.

Jedesmal, wenn sich ein Mensch ihrem Gehege nähert, legt erst einer los und alle anderen stimmen ein. Ihre Stimmgewalt nutzen die Siamang, um im Regenwald über weite Distanzen miteinander zu kommunizieren. Für mich klingt das in nächster Nähe wie ein direkt vor mir haltender Notarztwagen, der weder seine Sirene abstellen noch weiterfahren will. So als wäre ich der zukünftige Patient, der jedoch erstmal einen Gehörsturz verpasst bekommt, um dann vom Verursacher des Übels gerettet und abtransportiert zu werden.

Es ist für mich absolut nicht nachvollziehbar, warum man sich freiwillig eine solch nervtötende Spezies als Haustier hält. Wer es gerne laut um sich hat, dem empfehle eine Katze zu adoptieren – wenn die richtig Hunger hat, kann auch sie schreien, dass einem die Ohren weh tun. Wer meinen Kater „Gordi“ kennt, der weiss wovon ich schreibe.

Die Nachmittage gestalten sich im Cikananga Wildlife Center sehr abwechslungsreich – je nachdem, was gerade am Dringendsten benötigt wird, suchen wir nach frischen Blättern als Spiel- oder Nestmaterial, bauen Behausungen oder lernen, wie man ein Krokodil fängt. 

Das Bauen von Dingen macht uns am meisten Spass. Wir sägen, schrauben, fädeln und feilen. Das uns zur Verfügung stehende Material ist spärlich. Der Werkzeugkasten ist eher halb leer als halb voll. Aber es ist genau das, was den Reiz ausmacht. Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg und eine kreative Lösung findet sich immer.

Die Otter sind ganz ausser sich, als sie unser handgefertigtes Floss erhalten. Mit Micha gemeinsam etwas geschaffen zu haben, was anderen Lebewesen so viel Freude bereitet, sind für mich die schönsten Momente. 

Gegen 16 Uhr endet unsere Arbeitszeit. Wie üblich gibt es am frühen Abend die letzte Mahlzeit des Tages. Wir sitzen mit den anderen Freiwilligen zusammen, unterhalten uns, spielen Karten, einige von uns lesen.

Plötzlich schrecken die Hunde, die gerade so friedlich unter dem Tisch geschlafen haben, auf und beginnen, wie verrückt in die Luft zu bellen, jeder in eine andere Richtung. Keiner von uns versteht den Grund ihrer Aufregung. Wir sehen niemanden, vor dem sie uns warnen müssen. Liegt es an der Waschmaschine, die gerade in den Schleudergang überging und den Boden leicht wackeln lässt? Moment mal: die Waschmaschine steht doch gar nicht hier. Bevor ich diesen Gedanken weiter verfolgen kann, kommen auch schon die einheimischen Frauen, die für uns Kochen und sicher gerade mit dem Geschirrabwaschen beschäftigt waren, aus der Küche heraus gerannt. Wir starren auch sie mit weit geöffneten Augen und unverständlichen Blicken an. Sie rufen uns zu: „Kommt raus hier, dies ist ein Erdbeben!“. 

Endlich verstehen auch wir und bewegen uns so schnell wir können raus aus dem Essbereich, raus in die nicht überdachte Natur. Die Erde vibriert jetzt ganz schön doll. Es fühlt sich, als würden wir auf dem aufgeblähten Bauch eines Riesen sitzen, der gerade ein genüssliches Bäuerchen nach einem üppigen Mahl von sich gibt. Bevor ich es richtig begreife ist es auch schon wieder vorüber. Später lesen wir, dass wir heute Abend Zeugen eines Seebebens waren, das nicht weit von der Küste in etwa 10 Kilometer Tiefe einen Wert von 6,9 auf der Richterskala erreicht hatte.

Indonesien liegt wie viele unserer bereits bereisten Länder auf dem sogenannten Feuerring. Täglich gibt es hier mehrere Erdbeben. Glücklicherweise führen nur die wenigsten zu den fatalen Folgen, die uns unbekümmerten Europäern Chips knabbernd im Fernsehsessel als Unterbrechung unseres geliebten Abendprogramms in Form einer Eilmeldung präsentiert werden. Für die Menschen hier sind sie jedoch jedesmal eine ernstzunehmende Bedrohung. Vielleicht ist dies auch ein Grund dafür, warum viele Menschen hier trotz vieler materieller Defizite insgesamt zufriedener mit ihrem Leben wirken als manch Artgenosse zu Hause. Sie werden regelmässig daran erinnert, dass der Status Quo, das Zuhause oder gar die Existenz jederzeit innerhalb von Sekunden zerstört werden können. Jeden Tag, den sie also gesund und unbeschadet erleben dürfen, lässt sie dankbar sein.

Ich bin froh, dass es bei uns stets nur der Schleudergang der Waschmaschine ist, der unseren Boden wackeln lässt. Ich nehme mir vor, jedesmal wenn ich in Zukunft diese Vibration spüre, dankbar für das Leben zu sein, welches ich Zuhause leben darf.

Am nächsten Morgen stehe ich bereits um 5 Uhr auf, um mich von Micha zu verabschieden. Er hat einen besonderen Termin. Ich freue mich sehr für ihn, wünsche ihm einen guten Flug und eine tolle Zeit. In einer Woche sehen wir uns wieder. Falls du dort, wo du bist, in der Ferne einen Siamang brüllen hörst, dann weisst du, das ich es bin, die an dich denkt!

Die einzige Chance

Das ist unsere einzige Chance. Das muss klappen. 

Dies ist der Plan: Wir landen um 10.35 Uhr in Jakarta und werden von einem Fahrer abgeholt. Um 13 Uhr haben wir einen Termin in der Visastelle der chinesischen Botschaft. Laut Google Maps braucht man mit Auto für diese dreissig Kilometer weite Strecke lediglich 45 Minuten. Wir haben dreieinhalb Stunden eingeplant. Das sollte doch reichen.

Wir starten früh in Kuala Lumpur.
Vom Flughafen zur Botschaft in 42 Minuten (theoretisch).

Und hier nun die Realität: Wir landen planmässig gegen 10.30 Uhr in Jakarta, kommen gut durch die ganzen Einreisekontrollen und begeben uns dann in freudiger Erwartung zur Ausgangshalle. Da stehen die unterschiedlichsten Menschen und warten auf die Ankommenden.  Wie überall auf der Welt halten viele von ihnen Zettel mit Namen hoch. Aber unsere Namen finden wir darunter nicht. Wir quetschen uns durch das Gewusel, stellen unsere Rucksäcke ab und warten. Auch hier ist es heiss und es herrscht eine hohe Luftfeuchtigkeit. Wir kaufen uns erstmal etwas zu trinken und warten geduldig. Irgendwann läuft ein kleiner Mann mit einem Zettel an Micha vorbei. Wir quatschen ihn an und tatsächlich, da stehen unsere Namen auf dem Blatt Papier. Wir haben uns also gefunden. Es ist mittlerweile 11.30 Uhr. Alles ist in Ordnung, wir können los. 

Unser Fahrer kann kein Englisch, weiss jedoch von dem Termin. Er zeigt uns auf der Karte das Stadtzentrum von Jakarta und sagt etwas, dass wie „Embassy China“ klingt. Wir bestätigen mehrmals per Handzeichen und Mimik, dass wir tatsächlich erstmal dort hin wollen. Die ersten paar Kilometer kommen wir gut voran. Wenn es so weiter geht, dann haben wir sogar noch Zeit für einen kurzen Stop, um etwas zu essen. Schliesslich hat der Tag für uns heute sehr früh angefangen und unsere Mägen knurren schon. Doch mir wird schnell klar, dass aus der erhofften Mittagspause nichts wird. Schon verdichtet sich der Verkehr, wir werden immer langsamer und bald schon geht es nur noch stockend vorwärts – oder garnicht mehr. Willkommen in Jakarta. Es gibt internationale Rankings, da steht die 10-Millionen-Einwohner-Stadt auf Platz eins gemessen an den Verkehrsproblemen.

Ein Weitwinkelfoto von einem ganz normalen Motorrad-Parkplatz.

Ich schaue aus dem Auto und denke an deutsche Städte (von Schweizer Städtchen will ich garnicht erst träumen). Ja, auch bei uns gibt es Stosszeiten mit viel Verkehr. Es passieren Unfälle und es gibt Baustellen, die Stau oder Stop & Go verursachen. Aber das Ausmaß des Verkehrs in der Heimat ist nicht vergleichbar mit dem Chaos, das ich hier beobachte. Es sind nicht nur die vielen Autos und Busse – unentwegt versuchen sich Massen von Motorradfahrern an uns vorbei zu schlängeln und blockieren den Verkehr so nur noch um so mehr. Ampeln oder Verkehrsregeln, die es zu befolgen gilt, scheint es hier nicht zu geben. Polizisten versuchen den Verkehr angestrengt zu regeln, aber sie können der Lawine an Blech, Kunststoffen und Reifen nicht Herr werden. Sie ergänzen das dröhnende Hupkonzert lediglich mit ihren schrillen Tönen aus den Trillerpfeifen. Wie schaffen es die Menschen, die hier leben und arbeiten, diesen Verkehr täglich zu ertragen? Ärgern sie sich? Fluchen oder schimpfen sie gar? Oder nehmen sie es einfach hin? Sehen sie es als normal an? Oder nehmen sie es gar mit Humor? Sicher wird es auch hier solche und solche Menschen geben. Es wird Tage geben, da kann der Einzelne damit besser umgehen, als an anderen Tagen. Eins ist klar, tauschen möchte ich auf keinen Fall mit den Bewohnern von Jakarta. Und wie ich so aus dem Fenster schaue, vergeht eine weitere Stunde. Mein Handy zeigt an, dass wir nur noch 10 Kilometer entfernt sind. Wir sollten es schaffen, pünktlich zu kommen. 

Das ist sehr wichtig, denn es ist unsere einzige Chance, an ein Visum für China zu kommen. Das Reich der Mitte macht es den Touristen nicht unbedingt leicht. Stellen andere Länder ganz unkompliziert und schnell E-Visa aus (oder vergeben das Visum bei der Ankunft am Flughafen), muss jeder Reisende, der in die Volksrepublik möchte, persönlich zu einer chinesischen Botschaft gehen, seine Flugtickets (Einreise und Ausreise), einen Reiseplan mit gebuchten Hotels vorweisen, zwei biometrische Passfotos und seinen Pass abgeben. Die Bearbeitungszeit dauert dann circa 4 Tage. Zudem kann man nicht einfach spontan zur Botschaft gehen. Man muss sich vorab online einen Termin für die Beantragung geben lassen. Unser Zeitfenster ist heute von 13 – 13.30 Uhr. Entweder klappt es also hier und jetzt, oder wir haben unsere Flugtickets nach und aus China umsonst gekauft und knapp 1.000 Euro in den Sand gesetzt. Kein schöner Gedanke. 

Da steht es schwarz auf weiss: 13-13.30 Uhr

Zum Glück geht es mittlerweile wieder etwas schneller vorwärts. Als wir nur noch 500 Meter von unserem Ziel entfernt sind, ist es 12.50 Uhr und ich lege mein Handy beruhigt zur Seite und beobachte weiter den Verkehr. Es wird viel gehupt, es ist chaotisch und staubig. Gut, dass wir nach unserem Termin gleich wieder aus der Stadt rausfahren und uns nicht länger hier aufhalten. Die Zeit vergeht. „Komisch“ – denke ich, „sollten wir nicht mittlerweile da sein?“ Ich schaue auf mein Handy und sehe mit Schrecken, dass wir uns bereits wieder von der Botschaft entfernt haben. Laut der Karte sind wir 1.5 Kilometer vom Ziel entfernt. Wir machen den Fahrer darauf aufmerksam, aber er scheint uns nicht zu verstehen. Einfach wenden geht nicht, denn wir befinden uns auf einer mehrspurigen Strasse, mit theoretisch vier Spuren, praktisch fahren aber mindestens fünf Autos und mehrere Motorräder nebeneinander.  Wir entfernen uns immer weiter von der Botschaft. Mein Handy berechnet die Route permanent neu – unsere aktuelle Ankunftszeit ist 13.20 Uhr. Das darf doch nicht wahr sein. Endlich kommt eine Möglichkeit zum Wenden. Ich flehe den Fahrer mit meiner theatralischsten Mimik und Gestik an, doch bitte umzukehren und tippe unentwegt auf das eingegebene Ziel in meinem Handy. Er scheint endlich zu verstehen und wendet. Kurz vor dem Ziel geraten wir erneut in einen Stau und es geht nur noch sehr langsam voran.

Es ist nun bereits 13.15 Uhr und wir beschliessen hier auszusteigen und zu Fuss die letzten 800 Meter zurückzulegen. Aber der Fahrer will uns nicht rauslassen. Er wiederholt mehrmals das Wort „Police“. Ich verstehe ihn ja, schliesslich ist das hier eine Stadtautobahn auf denen Fussgänger nichts verloren haben – in Anbetracht der Tatsache, dass der Verkehr mittlerweile jedoch komplett steht, ist mir das egal. Wir haben einen Termin und ich habe keine Lust, diesen in einem Auto sitzend zu verpassen. Wir versuchen dem Fahrer klar zu machen, dass wir zur Botschaft laufen wollen, weil wir es sonst nicht schaffen. Er soll zur Botschaft fahren und dort auf uns warten. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen versteht er uns nicht. Egal – wir müssen jetzt los.

Wir lassen unsere grossen Rucksäcke im Auto und schnappen uns nur den kleinen, in dem wir alle wichtigen Dokumente aufbewahren und stürmen über die Autobahn. Ein kleiner Sprint in der Mittagshitze, die Luftqualität regt nicht unbedingt zum tiefen Einatmen ein. Es gibt durchaus schönere Orte und bessere Gründe, Sport zu treiben.  

Um 13.26 Uhr betreten wir schweissgetränkt den Raum für die Visa-Bearbeitung. Wir zeigen unseren Zettel mit unserem Termin, setzen unser bestes Lächeln auf und bekommen nach einer Musterung des Sicherheitsbeamten eine Nummer zugeteilt. Es sieht gut aus. 

Puh, wir haben es noch gerade so zum Termin geschafft.

Nach einer kurzen Wartezeit werden wir aufgerufen. Wir geben alle unsere Papiere, die benötigten Passfotos und unsere Reisepässe ab. Die Frau verschwindet mit allem und kommt nach ein paar Minuten mit mehreren Anmerkungen wieder: 

  • 1: Michas Unterschrift auf dem Visaantrag ist ihrer Meinung nach anders als die im Pass. Er soll den Antrag nochmal ausfüllen und auf seine Unterschrift achten. 
  • 2: Das Passfoto von mir entspricht nicht den chinesischen Vorgaben. Ich muss mich von dem hausinternen Fotografen nochmals ablichten lassen. 
  • 3: Da wir ja immer im Doppelzimmer übernachten und bei den Hotelreservierungen stets unsere beiden Namen als Gäste angegeben hatten, haben wir alle Hotelbuchungen nur einmal ausgedruckt. Wir erfahren jedoch, dass wir für jeden Visaantrag die Kopien aller Hotelbuchungen benötigen. Also alles nochmal kopieren. 

Es war nervig, aber machbar. Nichts ungewöhnliches und nichts was ein Vermögen an Geld oder Zeit kosten würde. Nach weiteren 30 Minuten hatten wir alles erledigt.

Mach´s gut lieber Pass – auf ein baldiges Wiedersehen mit Visum bitte.

Nach dem zweiten Versuch kam die Schalterdame dann endlich mit einem Lächeln im Gesicht und einem Zettel mit dem Abholdatum für unsere Pässe zurück. Uns fällt ein Stein vom Herzen. 

Mittlerweile ist es kurz vor 15 Uhr. Die letzten vier Stunden waren extrem anstrengend und haben mich gefühlt um mehrere Jahre altern lassen. Auch diese Situationen gehören zum Reisen, aber zum Glück überwiegen die angenehmen Momente deutlich.  

Wie wir nun unseren Fahrer wieder finden ist eine andere Geschichte….