In einer anderen Welt

Nach diesem „Once in a Lifetime und nie wieder – Erlebnis“ der 16-stündigen Überfahrt kommen wir gegen Mittag endlich auf Ha`apai an. Meine Freude, wieder festen Boden unter den Füssen zu haben ist ungefähr so gross, wie bei einem Kind, das als erstes einen schönen grossen Pilz im Wald findet. Wie müssen sich wohl die Seefahrer früherer Jahrhunderte gefreut haben, wenn sie nach mehreren Wochen auf dem Ozean endlich Festland betraten?

Heute gibt es keinen Kaffee. Die vierfache Verriegelung weist auf eine längere Schliessung hin. 

Das Café, das wir uns vorab aus dem Reiseführer als einen ersten Anlaufpunkt herausgesucht haben, ist geschlossen. Wir erfahren, das die Betreiberin noch für weitere sechs Wochen auf Heimaturlaub in Polen ist. Müde und etwas ratlos erblicken wir hinter dem Café etwas, das nach einer Fremdenherberge ausschaut. Es dauert nicht lange bis eine freundlich übergewichtige Frau auf uns zukommt und uns unseren Eindruck bestätigt. Wir inspizieren eins, zwei Zimmer und beschliessen kurzentschlossen, eine Nacht zu bleiben. Diese Absteige an der Strasse ist nicht die Unterkunft, die wir uns für die nächsten Tage vorstellen, aber in Abwesenheit von Alternativen ist es zumindest für eine Nacht schon in Ordnung. Wir träumen von einer einfachen Hütte direkt am Strand und mit einer Hängematte zwischen Palmen. Das Internet schlägt uns mit diesen Kriterien nur zwei ziemlich hochpreisige Ressortanlagen am anderen Ende der Insel vor. 

Fest davon überzeugt, das es auch eine Realität jenseits des Internets gibt, setzen wir darauf, das es noch weitere und vor allem bezahlbare Unterbringungsmöglichkeiten geben muss.

Wir werden wie so oft auf unserer Reise nicht enttäuscht und unsere Zuversicht wird bestätigt. Ein Fleischberg von Frau in der Tourismusinformation wiederholt zunächst im Wesentlichen die Resorts, die wir schon kennen. Ungewöhnlich ist, wieviel Zeit sie sich bei allem lässt und welche Bedeutung sie dem Gesagten verleiht, so als würde sie uns gleich das Geheimnis ewiger Jugend preisgeben. Die Pause zwischen unseren Fragen und ihren Antworten ist so lang, das ich mir nicht sicher bin, ob sie nachdenkt oder gerade Powernapping macht. Ich glaube, ein geduldiger Zeitgenosse zu sein. In diesen Tagen auf Tonga, besonders aber auf der Insel Ha`apai, komme ich mir jedoch wie ein junges Äffchen unter gechillten Schildkröten vor. Aber auch das ist ja Bestandteil unserer Reiseerfahrungen. Ich stelle mich darauf ein. Das kann ich gut. Nach einer wie beschrieben langen Wartezeit scheint ihr plötzlich eine Idee einzufallen- sie reisst die Augen auf und lächelt. Old Tonga Beach –  diese Anlage würde kurz vor der offiziellen Registrierung als Ferienunterkunft stehen und sollte unseren Preisvorstellungen entsprechen. Das tut sie!

Ein Plätzchen direkt am Strand und zwei Hängematten zwischen Palmen mit Meerblick am absoluten Ortsrand mitten im Busch. Zwei Hütten für jeweils zwei Personen sind schon gebaut und bezugsfertig, eine Dritte ist noch geplant. Es gibt eine Gemeinschaftsküche mit überdachter Terrasse und drei Tischen sowie passender Bestuhlung. Daneben steht ein Häuschen mit Dusche/Toilette für alle Gäste. Verwendet wird Regenwasser. Licht gibt es aus der Solarstromanlage vom Dach, das Gas für den Herd kommt aus der Gasflasche. Steckdosen sind hier allerdings Fehlanzeige. Ich merke wie abhängig wir doch sind. Steckdosen oder Ladestationen für elektronische Geräte sind ja bekanntlich die neuen Brunnen. Schliesslich kommt das Wasser hier in Form von Regen verlässlich mindestens ein Mal pro Tag von oben, aber für eine Steckdose ist die dürftig zusammengekittete Solaranlage wohl zu schwach. Unsere Powerbank liefert unseren Geräten Strom für die ersten sechs Tage. Danach muss der Grundstücksbesitzer den benzinbetriebenen Generator anwerfen, um alles wieder aufzuladen. 

Unsere Vermieter, froh über uns unerwartete Vorsaison-Gäste, geben sich sehr viel Mühe mit uns und leihen uns unter anderem ihre private Schnorchelausrüstung aus. Im Ort gibt es in den von chinesischen Einwanderern geführten Minimärkten so etwas nicht. Und überhaupt ist die Auswahl dort sehr übersichtlich. Ich habe ein Déjà-vu und fühle mich wie von einer Zeitmaschine in die DDR der siebziger Jahre zurück versetzt. Das, was wir suchen gibt es nicht, dafür aber vieles, was wir nicht brauchen: Tischdecken, Plastikeimerchen und Wäscheständer. Da es sonst nicht viel zu tun gibt auf Ha`apai, sind wir froh über die Schnorchelausrüstung. Wir probieren sie noch am gleichen Tag aus und sind im Wasser.

Ich spüre die Brille, die sich eng in mein Gesicht presst. Es fühlt sich an wie eine Saugglocke, die mit grossem Appetit alle Mitesser einatmet. Es darf kein Wasser hineindringen. Der Schnorchel wird an einer Seite an die Taucherbrille fixiert, damit dieser nicht wie ein zu kleiner Strohhalm in einem zu grossen Kino-Cola-Trinkbecher hin-und herwackelt. 

Es ist flach und wir stellen fest, das wir nur wenig Platz zwischen uns und den Seepflanzen und später auch den ersten Korallen haben. Um uns an den scharfen Korallen nicht zu verletzen, erkundigen wir uns nach den Gezeiten, so das wir an den Folgetagen erst bei Flut wieder ins Meer gehen. Unsere Ausflüge werden von Tag zu Tag länger. Wir haben Spass, obwohl zumindest meine Schwimmkünste überschaubar sind und sicher nicht Rettungsschwimmerqualtitäten haben. Während Jana recht geschmeidig und ausdauernd durch das Wasser gleitet, fühle ich mich eher wie ein Eisbär, der über kurze Strecken schnell und wendig agiert, jedoch froh ist, bald wieder auf seiner geliebten Eisscholle zu pausieren.

Schnorcheln – Eine Filmkomödie. (Ton an macht mehr Spass)

Ich bin beeindruckt von der Vielfalt des Lebens unter Wasser: Blaue Seesterne, Seegurken oder einfach nur jede Menge farbiger Fische. Deutlich wird auch, das sie sich vor allem an den Korallen aufhalten. In den Abschnitten, wo es nur Sand, Steine oder Muschel – bzw. Korallenreste zu sehen gibt, sind kaum Fische vorzufinden. Einmal bekommen wir nur wenige Meter unter uns tatsächlich eine schwarzweissgestreifte Seeschlangen zu Gesicht. Diese sind hochgiftig, jedoch absolut nicht an Menschen interessiert. Trotzdem mischt sich in die Entdeckerfreude ein kleiner Schrecken. Und immer wieder gibt es diese wunderbaren Momente, wenn ich in einen Schwarm kleiner blauer Fische hinein schwimme und für Sekundenbruchteile ein Teil von ihnen zu sein scheine.

Einmal in der Woche findet in Hafennähe ein Markt statt. Nach Tagen der unfreiwilligen Obst- und Gemüseabstinenz hoffen wir so sehr darauf, dort nun endlich frisches Grünzeug kaufen zu können. Wir sehen vier Stände, die es unter der Woche dort sonst nicht gibt: einer bietet Klamotten an, einer grillt Fleischspiesse, eine Frau verkauft selbstgebackenen Kuchen und am letzten Stand werden grüne Blätter angeboten. Wir freuen uns schon und hoffen auf eine Art regionalen Spinat. Unsere Enttäuschung ist jedoch gross, als uns gesagt wird, dass dies die Blätter sind, in denen man das Fleisch zum Grillen einwickelt. Essen kann man die Blätter nicht. Oh je, es bleibt also alles beim Alten. 

Warum ist auf einer Insel, auf der quasi alles wachsen könnte, kein frisches Obst und Gemüse erhältlich? Unsere Gastgeber lächeln auf unseren Frage hin. Bananen, Melonen und Wurzelgemüse wachsen bei jeder Familie wild im Garten. Kokosnüsse und Papayas holen sie sich bei Bedarf aus dem Busch. Und der Bedarf ist, wie wir bereits wissen, eher gering. Wenn demnach alle haben, was sie brauchen, wozu soll man es da auf dem Markt anbieten? Klingt irgendwie logisch, nützt uns aber nichts. 

Die Geringschätzung vegetarischer Kost wird unter anderem auch dadurch ausgedrückt, das die reichlich vorhandenen Kokosnüsse selten auf dem eigenen Teller landen, sondern an die vielen frei herumlaufenden Hausschweine verfüttert werden. Das Aroma beim späteren Verzehr dürfte ziemlich einzigartig sein, was wir jedoch nie erfahren werden. Letztlich bleibt uns nicht anders übrig als verschrumpelte, importierte Äpfel, Orangen und Birnen aus Neuseeland in den chinesischen Mini-Shops zu kaufen. Was für ein Frevel.

Unsere Gastgeber zeigen sich verständnisvoll und bringen uns nun regelmässig frische Kokosnüsse und Papayas aus dem Busch mit. Jana und ich werden sogar im Kokosnussspalten fachgerecht unterwiesen, damit wir auch ohne fremde Hilfe nicht an der harten Nuss verzweifeln. Das dafür benötigte Werkzeug, eine Machete, wird uns für die Zeit des Aufenthaltes überlassen.

Zweimal gehen wir tatsächlich auch selbst mit der Machete bewaffnet in den Busch und erjagen uns zwei Papayas. Eine willkommene Abwechslung zu den trockenen Winteräpfeln. 

Auf zwei Ausflügen mit einem gemieteten Auto an das andere Ende der Insel lernen wir die eingangs erwähnten Ressorts kennen. Diese liegen unmittelbar nebeneinander, sind hübsch gestaltet und bieten natürlich etwas mehr Komfort (zum Beispiel Steckdosen und Sitzsäcke). Sie haben jeweils ein Restaurant, in denen wir eine Pizza und einen Fallafelwrap geniessen. Allerdings herrscht auch hier ein Mangel an dem, was wir bereits überall auf der Insel vermissen. Der schöne breite Sandstrand und das türkisfarbene Meer laden uns zum Schnorcheln ein. Allerdings bleiben wir nur Tagestouristen. Wir erwecken augenscheinlich Interesse, als wir berichten, dass wir uns am anderen Ende der Insel ebenfalls direkt am Strand eingemietet haben. Das Wissen darum, das hier zwei Übernachtungen soviel kosten wie zehn Tage an unserem kleinen Privatstrand, gibt mir das gutes Gefühl, alles richtig gemacht zu haben.

Wir zweckentfremden den Sitzsatz des Luxusressorts und liegen auf ihm.
Fahren ohne Führerschein und ohne Schuhe.

Einen Führerschein oder sonstige Nachweise will übrigens keiner sehen. Aber was soll auch schon passieren auf einer kleinen Insel, auf der jeder jeden zu kennen scheint und nur zweimal in der Woche eine Fähre anlegt. Die Fahrtzeit von einem zum anderen Ende beträgt etwa 30 Minuten ohne Zwischenstopp bei einer Geschwindigkeit von etwa 40 km/h. Mehr lassen die Strassenverhältnisse nicht zu.

Auffällig ist die grosse Anzahl von Kirchen und Grabstätten. Auf Tonga dominieren die sogenannten Freien Kirchen (Methodisten, Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage/Mormonen, Siebenten-Tags-Adventisten und Assembly of God sind die vier grössten Gruppen). Diejenigen, die es sich leisten können, nutzen die Möglichkeit, ihre Verstorbenen auf ihren privaten Grundstücken zu beerdigen. Dadurch scheint die Religion und der Tod visuell präsenter als gewohnt. Die Gräber wirken nicht düster, eher bunt, mit Fähnchen, Windrädern oder Permanentfotos der Verstorbenen. Über einem Grab hängt sogar ein riesiges Schild mit „Happy Birthday“, was schon etwas makaber auf uns wirkt. 

Insgesamt habe ich den Eindruck, das die meisten Menschen in Tonga zwar materiell (sehr) arm sind, sich jedoch gegenseitig helfen. Zumindest habe ich keine Obdachlosen oder vereinsamte, alleingelassene Menschen wahrgenommen. Jeder scheint irgendwie aufgefangen zu werden und bekommt eine Aufgabe. Dafür wird er durch eine kirchliche und familiäre Gemeinschaft unterstützt. Die Anteilnahme und Hilfe der Familien untereinander ist stark ausgeprägt. Fremden gegenüber habe ich stets respektvolle Freundlichkeit erlebt. Nie habe ich mich bedroht gefühlt. Dieser würdevolle Umgang der Menschen miteinander hat mir sehr gut gefallen. Das ist eine Erkenntnis, die mich auf der weiteren Reise begleiten wird.

Elf Tage nach unserer Ankunft besteigen wir für den Rückweg wieder eine Nussschale, diesmal mit zwei Tragflächen und zwei Propellern. So müssen sich die „Männer in den fliegenden Kisten“ kurz nach der Erfindung der bemannten Luftfahrt gefühlt haben. Zwischen Start und Landung liegen nur 45 Minuten. Die vielen kleinen und grösseren Inseln unter uns erinnern an Fruchtstücke in einem Joghurt. Nach Essen ist uns auch bei der Rückreise auf die Hauptinsel nicht zumute.

Nach der Landung wartet Sam erneut mit dem Wagen auf uns, um uns abzuholen und uns in das vertraute Gästehaus auf Tongatapu zu fahren. Ich bin froh, ein bekannte Gesicht zu sehen. Ja, Ha`apai ist eine andere Welt und war für mich ganz bestimmt ein kleines Abenteuer. War es waghalsig? Nein. Ein Zitat von Paulo Coelho aus meinem Notizbuch fällt mir dazu auf: „Wer denkt, Abenteuer seien gefährlich, sollte es mal mit Routine versuchen: Die ist tödlich.“

Eine Seefahrt, die ist …lustig?

Die Dame am Ticketschalter der Fährgesellschaft und ich kennen einander. Ich bin nicht das erste Mal hier. Also was soll es denn nun sein:

  • Einzelkabine mit Verpflegung
  • Einzelkabine ohne Verpflegung
  • Freie Platzwahl mit Verpflegung
  • Freie Platzwahl ohne Verpflegung

Wer uns ein bisschen kennt, der weiss natürlich, welche Kategorie wir wählen.

Hafenimpression: der Wartebereich

Mit dem Ticket in der Hand und unseren Rucksäcken auf dem Rücken gehen wir in den teilweise überdachten, aber offenen Wartebereich. Wir haben auch eine Einkaufstüte voller Notproviant bestehend aus Tofu, Mandelmilchpulver, Sojageschnetzeltem und Nüssen dabei. Diese Eiweissleckereien haben wir aus weiser Vorahnung (ok, ok und Google) noch in Neuseeland gekauft.

Was da bei den Menschen unter dem Arm klemmt, sieht aus wie eine grosse Sushi-Rolle aus Bettdecken.

Einige Männer warten sitzend und quatschen miteinander. Sie sind wie die meisten Frauen hier, sehr gross und wirken kräftig. Keiner mit dem man sich um einen Keks streiten möchte. Ich bin froh, dass Micha neben mir sitzt und mit der Zeit auch einige Familien mit kleinen Kindern eintreffen. Viele von ihnen haben in Strohmatten eingerollte Decken und Kopfkissen dabei.

Die Zeit bis zum Boarding vergeht nur langsam. Es fängt an, leicht zu regnen. Wir beobachten die Familien, wie sie schutzsuchend unter den überdachten Flächen zusammenrücken. Wir sind freundlich und lächeln den wartenden Menschen sowie den tobenden Kindern um uns herum zu. Sie lächeln alle zurück. Ist es nur die uns bereits vertraute Freundlichkeit oder schwingt da auch ein „Ihr-wisst-ja-gar nicht-was-euch-erwartet“- Grinsen mit? Wir haben in der Tat keine Ahnung, was da in den nächsten Stunden auf uns zukommen wird.

Anders und vielleicht auch aufregend wird es, das vermuten wir. Schon die unmittelbare Reisevorbereitung für diese Überfahrt war ein kleines Abenteuer. Ein Rückblick:

Auf dem Flyer steht, dass die Fähre einmal pro Woche entweder Montags oder Dienstags um 19 Uhr ablegt. Man solle sich vorab erkundigen. Das tun wir im Touristeninformationszentrum und erfahren, dass der Termin noch nicht fix ist, dass sie jedoch wahrscheinlich am Dienstag um 18 Uhr abfährt. Wir sollten uns dies einen Tag vor Abreise nochmal bestätigen lassen. Wir rufen rechtzeitig an. Ja, tatsächlich die Fähre fährt diese Woche am Dienstag ab, und zwar um 19 Uhr. Hmm. Ich beschliesse zum Hafen zu gehen und bei dem Betreiber direkt nachzufragen. Ein Verpassen der Fähre wäre schliesslich auch blöd, wenn sie so selten fährt. Die propere Dame am Ticketschalter nickt freundlich und bestätigt 18.00 Uhr. Alles klar. Geht doch.

Und hier stehen wir nun, gespannt wartend und froh, dass soweit erstmal alles ganz gut geklappt hat. Die Fähre wird noch immer beladen – bereits gestern habe ich sehen können, wie Container auf das Schiff gehoben wurden. Auch jetzt herrscht noch ein reges Treiben – nun werden zahlreiche Kühlschränke und Waschmaschinen einzeln auf die Fähre befördert. Die Menschen müssen sich noch gedulden.

Irgendwann kurz vor 18 Uhr wird der Absperrzaun geöffnet und die Passagiere dürfen über einen kleinen Steg das Schiff betreten. Es gibt kein Speedy Boarding und es bedarf auch keiner dreisprachigen Durchsage, dass Familien mit kleinen Kindern zuerst an Bord gehen dürfen. Das scheint hier jedem klar zu sein. Und so reihen wir uns irgendwo in der Mitte ein und besteigen das Schiff, welches in den nächsten 16 (!) Stunden unser Zuhause sein soll.

Wer jetzt denkt, dass wir riesige Strecken auf dem noch riesigeren Pazifik zurücklegen werden, der irrt. Unser Reiseziel, die Inselgruppe Ha’apai liegt nur 180 Kilometer nördlich von Tongatapu. Also eigentlich nur ein Katzensprung, der einer etwa zweistündigen Autofahrt auf einer deutschen Landstrasse entspräche, jedoch eine halbe Ewigkeit auf einer Fähre dauern kann.

An Board steigen wir achtsam über die schon ausgelegten Matten und Matratzen der lokalen Mitreisenden. Die ersten Familien haben sich bereits im Gang eingerichtet – freie Platzwahl eben. Im Nachhinein kann ich diese Präferenz absolut nachvollziehen – hier ist es überdacht (schützt vor dem Regen), relativ eng (weniger Schaukelspielraum), angenehm warm und luftig. 

Im Moment des Betretens erkennen wir all diese Vorteile jedoch noch nicht und sind froh über eine kleine Ecke in einem klimatisierten Raum, die noch frei ist. Da alle anderen sofort Ihre Matten ausbreiten und uns nichts besseres einfällt, halten wir es ebenso.

Es ist 19 Uhr. Das Schiff steht noch im Hafen. Wie wohl überall in der Welt, „wenn jemand eine Reise tut“ wird kurz nach Platzsicherung auch hier auf Tonga erstmal das mitgebrachte Essen ausgepackt. Nur, dass hier natürlich niemand geschmierte Brote und ein Stück Gurke aus einer wiederverwendbaren, PVC-freien und spülmaschinenfesten Tupperdose auspackt. Hier gibt reichlich Instant-Nudeln, Chips, Dosenfleisch und Kekse.

Alles ist gut, wir haben einen tollen Platz abbekommen und unsere unmittelbaren Nachbarn scheinen nett zu sein. Ich hole mein Buch heraus und freue mich auf mindestens drei Stunden Lesezeit bis zum Schlafengehen. Ich sitze also auf meiner Isomatte, den Rücken an die Wand gelehnt. Kaum, das ich die ersten paar Zeilen gelesen habe, läuft rechts von mir die erste kleine Kakerlake in mein Blickfeld. Ich drehe den Kopf und sehe auch gleich ihre grosse Familie. Na toll. Die nächsten Minuten verbringen wir mit Kakerlaken verscheuchen. Sinnlos. Der Familienvater neben uns beobachte unsere Bemühungen und lächelt uns milde an.
Ist es das nicht das gleiche Lächeln, wie zuvor im Wartebereich?

Kurz nach 19 Uhr scheint es loszugehen, es ruckelt und holpert. Die Menschen um uns herum packen ihr Essen ein, legen sich alle auf ihre Matten und machen sofort die Augen zu. Ich wundere mich noch über diese frühe Bettstunde, merke jedoch schnell, dass hier niemand wirklich müde ist. Das Hinlegen dient alleine dem Aufrechterhalten des Wohlbefindens. Auch wir begeben uns nun in die Horizontale und beobachten auf dem Bauch liegend die Szene. Jetzt noch zu stehen wäre gefährlich. Das Schiff schaukelt mittlerweile dermassen, dass die paar freistehenden Koffer in unserem Raum hin und her rollen. Die dösenden Besitzer scheint das jedoch nicht weiter zu stören. Das Licht im Raum ist grell, aus den Lautsprechern kommt der laute Ton eines Actionfilms, der irgendwo in einem anderen Raum auf einem Fernseher gezeigt wird.

Ein perfektes Produkt: dezentes Design, wertig in der Verarbeitung, einfach im Gebrauch und kostengünstig in der Produktion. Davon hätten wir gut und gerne eine Grosspackung gebrauchen können.

Die Klimaanlage ist an. Ich merke, dass mir immer kälter wird. Irgendwann richte ich mich auf, um einen zusätzlichen langen Pullover aus dem Rucksack zu ziehen. Dieses kurze Hinsetzen ist zu viel für mich. Ich empfand vorher bereits ein intensiv-flaues Gefühl in der Magengegend. Nun ist mir kotzübel. Ich muss mich schnell wieder hinlegen. Wo sind eigentlich die kleinen Tüten, die jeder Passagier in einem Flugzeug in den Sitztaschen vor sich findet?

Ich kenne meinen Magen, gut geht es ihm nicht. Keine Sitze, keine Sitztaschen, keine Kotztüten.

Ich überlege schnell, was wir in unserer Provianttasche an überflüssigen Plastiktüten dabei haben und …. muss auch schon hineingreifen. Ich schaffe es gerade noch zu den nicht abschliessbaren Flächen, an denen ein Toilettenzeichen zu sehen ist, nichts worin ich normalerweise eine Sekunde verbringen würde. Dann gibt es kein Halten mehr…

Die Zeit bis zum ersten Stop verbringen wir auf dem Rücken liegend. Es ist die einzige Position, in der wir es einigermassen aushalten. Micha sieht zwar auch nicht gerade wie das blühende Leben aus. Er scheint aber etwas weniger empfindlich zu ein.

An Schlaf ist nicht zu denken, also lassen wir uns von Podcasts berieseln – jeder hat einen Kopfhörer im Ohr. Die Konzentration auf das Gesagte hilft dabei, uns zumindest gedanklich an einen angenehmeren Ort zu versetzen. Jedesmal wenn das Schiff sich neigt, fühle ich, wie sich meine Organe in mir im selben Winkel drehen. Zudem bin ich in einem Zustand der absoluten Gleichgültigkeit und staune über die Fähigkeit des Geistes. Natürlich sehe ich die Kakerlaken neben mir umherlaufen, aber es ist mir jetzt egal. Kakerlaken tun nichts, sie laufen einfach nur herum. Und ich liege hier, unfähig mich zu bewegen. Ich lasse es geschehen.

Ein Bildschirmfoto unserer Position irgendwann in der Nacht. Ein blauer Punkt im Nichts.

Irgendwann verringert sich das Schaukeln. Wir hören, wie der Anker ausgerollt wird. Es ist der erste von insgesamt drei Stops in dieser Nacht. Endlich können wir uns aufrichten, durchatmen und einen Schluck Wasser trinken. Es ist kurz nach Mitternacht und wir sind gerade einmal 50 Kilometer vom Abfahrtshafen entfernt. All diese Stunden für eine so kurze Strecke! Die Fähre hat demnach ein Durchschnittstempo von einem mittelmässigen Hobbyläufer bei einem Stadtmarathon. In diesem Moment freue ich mich, dass wir kein Ticket nach Vava’u gekauft haben – die Inselgruppe ist der letzte Stop nach insgesamt 310 Kilometern. 

Hauptsache liegen – ein Platz findet sich überall.

Die restlichen Stunden der Nacht verbringen wir genauso auf dem Rücken liegend, wie vorher auch. Das grelle Licht im Raum stört überhaupt nicht, die schnarchenden Menschen neben uns auch nicht, der laute Ton aus den Lautsprechern ist uns egal und an die kalte Luft haben wir uns nun wohl genauso gewöhnt, wie an die Krabbeltierchen. Die Podcast-App spielt ohne Anzuhalten alle geladene Folgen ab – es ist ein kunterbunter Mix aus Nachrichten, Reiseberichten, Interviews und Reportagen. Irgendwann schlafen wir dann doch für ein paar Stunden ein.

Als die Fähre ein weiteres Mal anhält ist es kurz nach 6 Uhr. Wir nutzen den Stop und gehen nach draussen. Es ist noch recht dunkel, trotzdem können wir sehen, dass wir vor einer Insel geankert haben. Kleine Fischerboote kommen auf unser Schiff zu. Zunächst wird ihnen Gepäck in Form von Taschen, Koffern und Kartons zugeworfen. Sobald sie voll sind, fahren sie wieder an Land. Andere kleine Boote kommen nun heran, um Passagiere abzuholen. Es ist interessant zu beobachten, wie alles, was hier ausgeladen werden soll auch ausgeladen wird und jeder Passagier ein Plätzchen auf einem der vielen kleinen Boote findet. Der ganze Stop dauert über eine Stunde. 

Bis nach Ha’apai ist es nun nicht mehr weit. Nur noch 40 Kilometer und das Schaukeln lässt zum Glück nach . Micha fühlt sich wohl genug, ein paar Kekse zu essen und einen Kaffee zu trinken. So zuversichtlich bin ich nicht. Ich lege mich nochmal auf die Isomatte und versuche zu schlafen. Der relativ ruhige Seegang hilft dabei. Ich träume vom Strand, von der Sonne, die meine Haut wärmt, von festem Boden unter mir und von meinem Buch, dass ich dann endlich werde lesen können.

Willkommen in den Tropen

Neuseeland hat uns mit seinem abrupt einsetzenden Herbstanfang Anfang April darauf aufmerksam gemacht, dass es Zeit wird, weiter zu reisen. Die letzten Tage wurden immer kälter und ungemütlicher. Unsere Reise durch Neuseeland fühlte sich an wie ein fabelhafter Samstagabend in einer guten Diskothek – wir haben nette Leute kennengelernt, die eine oder andere Telefonnummer eingesteckt, leckere Drinks geschlürft und die Nacht durchgetanzt . Die Musikmischung war perfekt und wie erwartet wurde irgendwann das Lied „The Time Of My Life“ aufgelegt. Der immer öfter auftretende Regen sowie die kalten Nächte waren wie ein Abschiedslied à la „Dirty Dancing“ – das allgemein bekannte Zeichen, dass der DJ bald Feierabend machen möchte. 

Unser nächstes Reiseziel hatten wir bereits in Deutschland festgemacht. Eine Insel in der Südsee sollte es sein und zwar Tonga. Wir entschieden uns für diese relativ unbekannte Inselgruppe, weil es dort nicht allzu touristisch sein sollte, wir so unser Budget schonen konnten und weil es der einzige Staat in der Pazifikgruppe ist, der in seiner gesamten Geschichte stets unabhängig blieb.

All das klang irgendwie sympathisch.

Tonga, ein Königreich mitten im grossen blauen Pazifik.

Gelandet sind wir in Nukuʻalofa, der Hauptstadt Tongas. Diese befindet sich auf Tongatapu, der grössten der 170 zum Staat gehörenden Inseln. Obwohl es bei unserer Ankunft schon weit nach 23 Uhr war, knallte uns eine extrem schwüle und heisse Luft entgegen, sobald die Türen des Flugzeugs aufgemacht wurden. Zudem roch es stark nach Kerosin. Sofort hatte ich das Gefühl, kaum Luft zu bekommen. Egal wie tief ich einatmete, der Sauerstoff in der Luft schien mir nicht zu reichen. Die Transpiration setzte sofort ein. Ich fühlte mich wie in einer Sauna nach dem ersten Aufguss, wenn der Saunawart zur Verteilung der heissen Luft das Handtuch schwingt.

Willkommen in den Tropen. 

Die meisten Touristen bleiben hier keine einzige oder vielleicht gerade mal eine Nacht – zu verlockend sind die vielen kleinen Inselchen mit ihren weissen Traumständen und den Korallenriffen. Ausserdem ist die etwa 260 Quadratkilometer grosse Hauptinsel sehr schnell erkundet. Es gibt ein paar Reiseagenturen, die alle die gleichen drei Touren anbieten – die Vormittagstour führt durch den Ostteil der Insel, auf der Nachmittagstour erkundet man den Westteil und wer es ganz eilig hat oder sich nicht entscheiden kann, der bucht am besten eine Ganztagestour. So einfach ist das.

Wir haben es jedoch nicht eilig und verbringen fast eine Woche auf Tongatapu. Nach den vielen Eindrücken in Neuseeland und dem ständigen Ortswechsel geniessen wir es, eine Woche am gleichen Ort zu sein. Zudem ist es herrlich angenehm, dass Nukuʻalofa eine Hauptstadt ist, die nicht mit den Top 10 „Must Do´s“ lockt. Wir wollen auch mal Nichts tun müssen.

Wir verbringen die Tage mit Fotos sortieren, längst überfällige Blogartikel schreiben, verschiedenes zu lesen und Obsteinkäufen auf den Märkten. An den Abenden geniessen wir das eine oder andere Glas Wein und die Gespräche mit unserem Zimmernachbarn Mike – einem Australier, der für ein paar Monate in Tonga in der Katastrophenprävention arbeitet.

Leckeres Obst und Gemüse gibt es hier reichlich – nur leider ist es bei den meisten Einwohnern nur die Beilage.

An einem Tag mieten wir uns dann aber doch ein Auto und nehmen uns einen ganzen Tag (!) Zeit für den Westteil der Insel. Wir besuchen die Stelle, wo der Holländische Segelfahrer Abel Tasman 1643 zum ersten Mal auf Tongaer traf und seine Eindrücke schriftlich festhielt. Er beschrieb sie als ein friedliches und freundliches Volk – dies können wir heute nur bestätigen.

Weiter an der Küste entlang treffen wir auf einen riesigen Felsen, der recht verloren in der Ebene steht. Wenn man nah genug an ihn herantritt, erahnt man seinen Ursprung – es handelt sich um einen Korallenfelsen. Satellitenbilder vom Meer zeigen zudem, dass unweit ein solch grosses Stück Koralle im Meeresboden fehlt. Ein Tsunami muss vor langer Zeit diesen Koloss einmal abgelöst und aufs Land befördert haben. Deshalb schmücken ihn die Einheimischen auch mit dem dem Namen „Tsunami Rock“.

Ein weiteres Highlight, was wir zuvor noch nirgends auf der Welt gesehen haben, sind die Blowholes – also die „blasenden Löcher“. Auf einem 5 Kilometer breiten Küstenabschnitt trifft das Meer direkt auf Vulkangestein und formt seit eh und jeh kleine Tunnel in den Stein. Jedesmal wenn eine grosse Welle auf den Fels trifft, wird das Wasser durch die Löcher gepresst, wobei eine Art Geysir entsteht, der bis zu 30 Meter hoch werden kann. 

Einen kurzen Stop legen wir natürlich auch an der dreiköpfigen Kokosnuss ein. Also ein Baum der sich kurz vor der Krone zweiteilt und dessen einer Ast sich weiter oben noch einmal teilt. Dieses lokale Highlight hat sogar sein eigenes Sehenswürdigkeitshinweisschild am Strassenrand.

Ich kann es mal wieder nicht lassen.

Während unserer Fahrt treffen wir überall auf neugierige, nach Abwechslung und Futter gierende Hunde, in der Sonne dösende Katzen, Hühner, die ihre Küken um sich scharen und Ferkel, die ihren Schweinemamas eilig hinterher hasten. Alle laufen frei herum und die Insel kommt mir ein bisschen vor wie eine grosse Villa Kunterbunt. Nur leider ist das die Idylle, die ich mir für dieses Bild gerne vorstelle. Und die Idylle trügt, wie so oft. Alle dieser Tiere (ja alle) landen hier früher oder später im Kochtopf – die Tongaer lieben Fleischgerichte. Fleisch ist oft, sehr oft, quasi fast immer auf dem Teller. Wenigstens sind sie da konsequent und unterscheiden nicht zwischen Haus – und Nutztieren, so wie wir es in westlichen Ländern gerne tun und den Verzehr von einem Schwein als normal betrachten, einen gekochten Hund aber nie und nimmer herunterschlucken würden.

In Tonga hat man oft Schwein.
Hühner dürfen mit ins Café und behaupten sich als Ökokrümelsauger.

Als letztes wollen wir uns eine natürlichen Landbrücke anschauen. Im Gegensatz zu der Dreiköpfigen Kokosnuss ist dieser besondere Ort jedoch nicht ausgeschildert und wir brauchen mehrere Anläufe, bis wir die Brücke finden. Die Zufahrtsstrasse ist voll mit nach Jauche stinkenden Pfützen und Matsch. Beim Überqueren setzen wir mehrmals auf und müssen nachschauen, ob noch alles am Auto dran ist. Den Dreck an unseren Schuhen nehmen wir ungewollterweise mit ins Auto und stellen so sicher, dass das Fahrzeug nun einheitlich von aussen und von innen wie frisch gedüngt riecht. Michas Sportschuhe versprühen noch heute trotz Waschmachinenreinigung einen Hauch von „Eau de Ferkél“.

Am Abend nimmt uns Mike mit auf ein Feierabendbier mit ein paar Kollegen in seine Lieblingsbar. Wir wissen nicht, wie es mittlerweile auf Hawai ist, aber in Tonga gibt es sehr wohl reichlich Bier. Das lokale Gebräu ist gut, aber die Piña Colada frisch zubereitet mit echter Kokosnuss ist der absolute Traum.

Der Abend ist ein toller Abschluss zu diesem erlebnisreichen Halbtags – Ganztagesausflug. Den Ostteil der Insel wollen wir auch noch erkunden – aber nicht gleich am nächsten Tag, denn das wäre uns zu anstrengend.