Schweigen, Schwitzen, Schlafen – Teil 3

Die Erlaubnis, die ich mir nun selbst gebe, ist eine Wohltat für mich. Einige Meditationen lasse ich ausfallen, um etwas Schlaf nachzuholen, um zu lesen oder mich ein bisschen zu dehnen. Nicht nur am Schreibtisch zieht es nach einer Weile im Rücken, gleiches kann auch nach vielen Stunden Meditation passieren. Dabei gestatte ich mir, die Gedanken, die kommen, auch zu verfolgen. Und wenn nach einer gewissen Zeit der Schlafsand wie ein Schmetterling angeweht kommt, dann nehme ich ihn wahr, versuche nicht ihn zu verscheuchen, sondern lade ihn sogar ein, sich auf mir niederzulassen. Ich verändere dann meine Position – vom Schneidersitz in eine Hockposition, mit angewinkelten Beinen, die Arme um die Beine geschlungen und den Kopf auf den Knien abstützend. Das ist eine bequeme und stabile Haltung, für ein kleines Nickerchen. Naja, jedenfalls war sie es bis heute. 

Bereits nach wenigen Minuten verliere ich die sicher geglaubte Stabilität und neige mich nach rechts. Normalerweise wache ich in dem Moment des Kippens auf und kann mich wieder leise und unbemerkt aufrichten. Doch heute ist mein Schlaf bereits zu fest, ich träume schon von einem Fall. Ich falle ins Bodenlose. In Wirklichkeit war der Boden sehr nah, zu nah, als dass ich mich noch hätte sanft wieder aufrichten können. Instinktiv stütze ich mich mit der rechten Hand auf den Boden. Rumms! Das war ein lauter Schlag. Ich bin sofort wach und fange an zu lachen. Eine wirklich komische Situation – alle anderen Yogis und Nonnen waren tief versunken in ihrer Meditation und werden plötzlich aus ihrer Tiefenentspannung abrupt herausgerissen. Meine direkte Nachbarin schaut mich mit grossen, fragenden Augen an und deutet mit ihrer Gestik darauf hin, dass ihr Herz nun rast. Oh je, das tut mir leid. Das Ganze ist mir unangenehm und so versuche ich mich schnell wieder im Schneidersitz auf die Meditation zu konzentrieren. Aber es gelingt mir nicht. Ich kann mich nicht mehr auf mein Atmen konzentrieren. Immer wieder muss ich an die Situation denken und jedesmal kichere ich leise. Kurz darauf verlasse ich die Halle frühzeitig. Es ist fast Essenzeit. Ich freue ich mich auf den Nachmittag – denn diese Meditationen werde ich schwänzen, um: genau – etwas Schlaf nachzuholen. Aber dann richtig, im Bett.

In der Mittagspause legt mir Ing einen Zettel auf den Tisch. Darauf steht, dass es nach der Pause ab 13.00 Uhr eine Special – Session gibt. Das Ganze findet in einem kleinen freundlich-hellen Raum in der zweiten Ebene der Frauen-Meditationshalle statt. Als ich eintrete, sehe ich Jana und das ältere Yogi-Pärchen aus Israel bereits präpariert in Pose. Eigentlich ist es wie immer in dieser Woche: eine Stunde Sitz-, dann eine Stunde Geh-, dann eine weitere Sitzmeditation. In der Gehmeditation werde ich darauf hingewiesen, dass ich meine Rückwärtslaufbewegungen einstellen möge. Diese hatte ich mir ausgedacht, um mir etwas Abwechslung in den Bewegungsabläufen zu verschaffen. So, wie ich mir als Rechtshänder mit der linken Hand die Zähne putze, um andere Gehirnareale zu trainieren. Aber für solch kreative Varianten ist hier kein Platz. Schade, finde ich. 

Diese Überraschungsmeditation ist für mich super anstrengend, da wir nur zu fünft in dem Raum sind und ich mir in dieser kleinen Runde und direkt vor Ing sitzend, Mühe gebe, die Meditation richtig durchzuführen. Ich schaffe es sogar, diesmal nicht einzuschlafen. Dafür ist mein Kopf voller Gedanken, denen ich immer wieder folge. Vom reglosen Sitzen schlafen meine Beine ein und als ich den Schmerz nicht mehr aushalte, bewege ich mich. Wie schaffen es die Anderen, stundenlang in dieser Position auszuharren? Einige der hier lebenden Mönche und Nonnen haben bereits Monate oder sogar Jahre diesen strengen Meditationsrhythmus hinter sich. Nach den Sitzungen dürfen wir Fragen stellen. Ich möchte wissen, ob das lange, stille Sitzen keine gesundheitlichen Schäden am Knie, Rücken oder der Hüfte verursacht. Ing lächelt milde und verneint dies ohne weiter auf meine Bedenken einzugehen. 

Am vorletzten Tag unseres Aufenthaltes beginnt im Kloster ein Fest, an dem auch wir teilnehmen dürfen. Die Bewohner der umliegenden Dörfer sind ebenfalls eingeladen. Wo vorher achtsam ein Fuss vor den anderen gesetzt wurde, rennen nun Kinder aufgeregt herum.

Jana und ich kaufen im Klosterladen mehrere Packungen Feuchtigkeitstücher als Spende für die hier lebenden Mönche und Nonnen. Und wir nutzen die Gelegenheit, um dem Kloster auch einen Obolus für unseren Aufenthalt zukommen zu lassen. Dafür werden wir an einem der kommenden Tage beim Frühstück als diejenigen ausgerufen, die an dem Tag das Essen, den Strom und den Nachmittagssaft für alle hier lebenden Menschen spenden. Im Gegenzug werden die Nonnen, Mönche und Gäste uns, in dem bekannten wiederkehrenden choralem Gebet wünschen, das wir frei von physischen und mentalen Leiden sein mögen. Ein schöner Gedanke. 

In der Meditationshalle der Männer, die ich heute zum ersten Mal betrete, versammeln sich alle. Es gibt auch hier eine festgelegte Sitzordnung – die Frauen sitzen rechts, die Männer links, die Ranghöchsten ganz vorne und die Gäste ganz hinten. Ich bin froh über diese Aufteilung, denn in der letzten Reihe kann ich mich an die Wand lehnen. Hinter mir ist ein Fenster durch das neugierig einige Kinder aus dem umliegenden Dorf reinschauen. Nachdem alle zur Ruhe gekommen sind, beginnt der Klostervorsteher Kuyinpin Sayadaw seine Rede zu halten. Zunächst auf burmesisch und dann auf englisch. Wir verstehen nicht viel, die Akustik ist nicht gut – es geht um das richtige Meditieren und die Vorzüge de regelmässigen Praxis. Im Anschluss übersetzt Ing die Rede auf thailändisch und ein anderer Mönch wiederholt sie auf vietnamesisch. Nach einem geordneten Abgang finden sich alle zu einem Gruppenfoto ein, welches bis heute die Startseite des Webauftritts des Klosters schmückt. (Hier der Link zur Webseite)

Nach dem Mittagessen, welches heute üppiger ausfällt als die anderen Tage, werden die Nonnen und Mönche im Rahmen eines besonderen Rituals, der eigentlichen Pavarana-Zeremonie, mit vielen kleinen und größeren Dingen bedacht. Sie stellen sich in eine Reihe und laufen langsam vorbei an den Spendern. Nun kommen unsere am Vortag erworbenen Taschen- und Feuchtigkeitstücher zum Einsatz. Andere verschenken Kaffee, Waschpulver, Seife, Zahnpasta, Elektrolytetütchen oder Handtücher. Diese Zeremonie erinnert mich an die Verpflegungsstellen beim letzten Stadtmarathon, nur das es viel langsamer – eben achtsam – zugeht. Angefeuert wird hier nicht. Dafür spüren wir umso mehr Dankbarkeit. 

Am Nachmittag haben wir die Möglichkeit, uns frei im Kloster zu bewegen, Fotos zu machen und auch die Umgebung zu erkunden. Jana und ich verlassen erstmals seit unserer Ankunft das Klostergelände. Bevor wir das Dorf erreichen, gehen wir an das Ufer eines mächtig breiten Flusses, dem Inawaddy. Die hohen Farne, die untergehende Sonne, die von ihr rosa gefärbten Wolken lassen den Ort sehr idyllisch erscheinen.

Aber schon bald bemerken wir, dass die Realität weniger romantisch ist. Die Hütten, die wir auf unserem Spaziergang sehen, sind aus Stroh, die Dächer bestehen aus Wellblech, der Fluss dient als Bade- und Waschsstelle für Mensch und Tier.

Es liegt viel Müll herum und oft begegnen uns streunende, scheue Hunde. Sie sind noch magerer als die Hunde im Kloster, viele haben Verletzungen und hinken. Ein Hund liegt nicht weit von uns im Ufersand und steht nicht auf, als wir uns ihm nähern. Janas geschulter Blick entdeckt schnell eine offene Wunde an ihm, in der sich bereits dicke Würmer eingenistet haben. Der Hund leckt unentwegt daran, aber das hilft natürlich nichts. Da ihm ein ganz besonders schmerzlicher und langsamer Tod bevorsteht, ist Jana bereits fest entschlossen, diesem einen Hund zu helfen – auch wenn sie noch nicht weiss wie. 

Dieser Hunde braucht dringend medizinische Hilfe und Futter. Wir überlegen, wie wir ihm helfen können und beschliessen, zunächst im Kloster nachzufragen. Obwohl alle sehr viel zu tun haben, um das Fest zu organisieren, hört uns Ing zu und sagt, dass der nächste Arzt für Menschen in Saigan lebt, circa eine Autostunde entfernt. Würde er einen Hund behandeln? Und wie bekommen wir den Patienten zum Arzt? Ich möchte ein Taxi organisieren und bin bereit, die Kosten zu übernehmen. Aber Ing winkt ab. Ich rede weiter auf sie ein und bitte sie, sich nach dem Fest um diesen Hund zu kümmern. Sie sagt es mir zu, muss nun aber gehen. Die Abendmeditation ist geprägt vom „wandering mind“ – ich kann mich nicht auf meinen Atem konzentrieren. Hunderte von Gedanken über unseren Spaziergang, die Menschen und die Tiere, die wir sahen, rasen durch meinen Kopf. Was mache ich als nächstes? Soll ich überhaupt etwas tun und wenn ja, was kann mein Wirken schon ändern?

Am nächsten Morgen stelle ich mich beim Frühstück zum ersten Mal in die Reihe „non vegetarien“. Zu meinem grossen Erstaunen ist aber auch hier alles vegetarisch und so lade ich meinen Teller voll mit gekochten Eiern und Tofu. Ich habe eben heute einen außergewöhnlich guten Appetit. Dennoch lasse ich mir extra viel Zeit mit dem Essen, damit meine Tischnachbarinnen vor mir aufstehen. Denn das, was auf dem Teller vor mir liegt ist ja nicht für meinen Magen bestimmt. Es soll möglichst unentdeckt in der mitgebrachten Plastiktüte verschwinden. Ich nutze die Gelegenheit, dass alle mit dem Fest beschäftigt sind und schleiche mich mit dem noch warmen Essen unter meiner Bluse aus dem Kloster hinaus. Der Hund mit der offenen Wunde ist nicht mehr an dem Platz, wo wir ihn gestern gesehen haben. Ich laufe weiter, suche ihn, kann ihn aber nicht finden. So kommen zwei andere, sehr dünne und scheue Vierbeiner in den Genuss von reichlich Proteinen. Zunächst springen sie instinktiv weg, als ich ihnen die vermeintlichen Steine hinwerfe. Doch ihre Nase führt sie schnell zurück zu der Stelle und sie schlingen die Essenklumpen ohne jegliche Kaubewegung herunter. Das Ganze dauert wenige Sekunden, denn weder ich, noch die Hunde wollen unsere jeweiligen Artgenossen auf diese Szene aufmerksam machen. Als wir uns wieder trennen, sehe in den Augen der Hunde grosse Verwunderung über das eben Geschehene. In meinen Gedanken spreche ich die Zeilen, die wir hier am Abend singen: Möget auch ihr frei von Leid sein. 

An diesem letzten Tag nehmen wir an der Abschlußzeremonie des dreimonatigen Retreats teil. Der Klostervorsteher hält wieder eine Rede, die auch diesmal in die drei anderen Sprachen übersetzt wird. Mönche, die zum Teil auch von anderen Klöstern angereist sind, sitzen heute auf Holzbänken hinter dem Meister in gleicher Blickrichtung wie er. Buddha wacht hinter allen. Nonnen, Yogis und Gäste sitzen ihnen gegenüber auf dem Boden im Yogasitz und lauschen aufmerksam. Es wird auch gesungen, eingestimmt von einem alten Mönch.

Im Anschluß werden die Mönche, die als erste die Meditationshalle verlassen, von Mitgliedern einer Spenderfamilie aus Vietnam mit jeweils einem halben Wäschekorb voller mehr oder weniger nützlicher Dinge bedacht. Ich bin überrascht, das auch ich als Gast mit kurzer Verweildauer beschenkt werde, vor allem weil darin auch ein Umschlag mit einer Geldspende von 20.000 Kyatt (circa 12 Euro) steckt. Ich bedanke mich wie alle anderen mit zum Gebet gefalteten Händen und einer angedeuteten Verbeugung.

Nun heisst es für uns Abschied nehmen. Wir haben noch zwei Stunden, bevor es mit dem Taxi wieder nach Mandalay geht. Wir packen unsere Sachen zusammen und putzen unsere Hütten. Es ist wie an den anderen Tagen sehr heiss. Die hohe Luftfeuchtigkeit macht mir zu schaffen, der kleinste Handgriff bringt mich ins Schwitzen. 

Um 14.00 Uhr treffen Micha und ich uns am Klosterbüro. Wir beschliessen unser letztes Geld und die Spende, die wir beide eben erhalten haben, an Ing weiterzugeben, damit sie Medikamente für den Hund kaufen kann. Ich bin mir nicht sicher, ob das reicht, denn wir kommen gerade mal auf 35 Euro. Sie ist gerührt von unserer Hartnäckigkeit und beruhigt uns. Sie weiss bereits, welche Salbe, welche Kräuter helfen werden und sie fragt uns, ob sie das übrige Geld für die Versorgung der bereits aufgenommen Klosterhunde einsetzen darf. Natürlich!

Was bleibt von dieser Woche?

Das Meditieren bewirkt bei mir, dass ich zwar den Strom der Gedanken nicht aufhalten, aber verlangsamen kann. Durch Fokussierung reduzieren sich diese auf eine geringe Anzahl. Die Stille hilft, das statt einem permanenten Feuerwerk eher einzelne Blitze durch meinen Kopf schießen. Interessant ist, dass die wenigen Gedanken, die sich dann Zugang zu meinem Bewußtsein verschaffen, sehr gute, kreative und förderliche Ideen sind. Ich denke weniger aber klarer. Das hilft mir, wichtige Entscheidungen zu treffen. Für Sekundenbruchteile bin ich eins mit mir. Diese Erfahrung gemacht zu haben, ist sehr wertvoll für mich. Jetzt weiß ich, dass ich es jederzeit wiederholen kann. Natürlich bin ich hier am Anfang eines Lernprozesses, der nie endet. Darauf kommt es auch nicht an. Die Reise ist ja das Spannende.

Ich erlebe wie asymmetrisch sich bei mir innerer und äußerer Wohlstand entwickelt haben. Im Vergleich zu den verschiedenen Zuhauses in Deutschland waren viele Orte während unserer Tour und ganz besonders der spartanisch eingerichtete Bungalow im Kloster Kujinung sehr einfach und komfortfrei. Die Priorität liegt hier auf der inneren Erkundung. Die Erlangung von Zufriedenheit durch Genügsamkeit und Fokussierung ist eine Erfahrung, die ich von diesem Ort mitnehme. 

Das Außen wird zur Kenntnis genommen, nicht bewertet, kommentiert oder gar manipuliert. Ich nehme alles wahr und versuche, es dabei bewenden zu lassen. Ich lausche, was in mir passiert. Welche Gedanken und Gefühle kommen und gehen? Wie geht es mir dabei? Das ist nichts für Feiglinge. Manchmal halte ich es kaum aus. Ich übe mich darin, durch die Steuerung meiner Gedanken auch meine Gefühle zu lenken. Mal gelingt es besser, mal weniger. Auch dies ist ein Pfad, dessen Ziel ich nicht kenne. Aber ich laufe schon mal los. Doch allein der Umstand, dass ich gestartet bin, lässt mich lebendig und bewusster fühlen. Das, was ich entdecke, hat mit mir zu tun. Das bin ich. Nicht, dass mir alles gefallen würde, was mir meine vielen Ichs da versuchen aufzutischen. Aber ich sag mir: lass sie alle reden – am Ende trifft mein Wesenskern, mein Verstand und mein Herz, also ich als Einheit die Entscheidung, wo es langgeht. Das ist mein innerer Reichtum. Das ist anstrengend, oft beängstigend, manchmal amüsant, nur selten langweilig. Was ist dagegen schon die nächste Shoppingtour oder das Erreichen der nächsten Sprosse im Hamsterrad? 

Ich habe mich wieder daran erinnert, was ich vergessen hatte: das Gefühl der Dankbarkeit ist der Unzufriedenheitskiller Nummer Eins! Alles im Kloster ist kostenfrei, das Essen, die Getränke, die Unterkunft, die Sachspenden oder die Gespräche mit dem Meister und unserer Mentorin Ing. Wir hätten diesen Ort verlassen können ohne einen Cent zu bezahlen. Das ist uns aus dem wohlhabenden Deutschland in einem der ärmsten Länder der Welt passiert. Auch wenn diese Erkenntnis nicht neu ist und manchem banal erscheint, habe ich sie für mich wieder entdeckt und mir vorgenommen, sie nicht mehr zu „vergessen“. Nach der Rückkehr habe ich damit begonnen, jeden Morgen Dinge zu benennen, für die ich dankbar bin, ebenso Menschen, denen gegenüber ich Dankbarkeit empfinde. Dabei begründe ich vor mir selbst, warum bzw. wofür ich dankbar bin. Dieser Trick funktioniert bei mir sehr gut, wenn sich bei mir schlechte Laune oder Unzufriedenheit ankündigen. Natürlich klappt das nicht immer, aber fast…

Mir wurde im Kloster bewusst, wie aktiv ich im Alltag bin und mit welcher Geschwindigkeit ich durch mein Leben rase. Ich tue mich sehr schwer mit diesem abrupten Abbremsen und dem plötzlichen Stillstand – mein Körper verlangt nach Bewegung und mein Geist nach Beschäftigung. Oft saß ich in den Meditationen und dachte daran, was ich in dieser Zeit alles erledigen könnte. Was all diese Menschen um mich herum erreichen könnten. Minute um Minute vergingen, ohne dass ich, dass irgendjemand, etwas tat. Das frustrierte mich sehr, negative Gedanken kamen auf, gefolgt von negativen Gefühlen. Die Müdigkeit, die mich immer wieder überfiel, war vielleicht ein unbewusster Zug meines Körpers, um dieser inneren Zerrissenheit zu entkommen. Ich wollte meditieren, wollte das Gefühl des „eins sein mit mir“ erlangen, aber dafür hätte ich einen Weg einschlagen müssen, der meinem Wesen vollkommen widerspricht. Ich bin gut darin, Dinge anzupacken und abzuschliessen. Aber ich kenne nur diese eine Richtung – nach vorne gerichtet und dann: schneller, weiter, höher. So geht es wahrscheinlich den meisten aus meiner Generation in den westlichen Ländern. Das sind unsere gesellschaftlichen Werte, von denen wir geprägt werden, die ganz tief in uns sind und die wir jeden Tag leben. Und dadurch, dass wir sie leben, werden sie zu unserer Wahrheit und wir können gar nicht anders, als genauso weiterzumachen. Aber oft gibt es mehr als nur eine Wahrheit. Völlig andere Lebensweisen sind möglich, andere Werte und Ziele ebenfalls erstrebenswert. Während meines Aufenthaltes im Kloster durfte ich kurz anhalten, innehalten und meinen Blick auf einen der anderen Wege richten. Aber ich konnte diesen Weg nicht weit gehen, zu stark zog es mich in die mir bekannte Richtung.

Und was ist aus dem Hund geworden? 

Nach ein paar Wochen erfuhren wir von Ing per E-Mail, dass der Hund zunächst nicht gefunden werden konnte. Dann hatten ihn Kinder aus dem Dorf entdeckt. Nonnen kümmerten sich um ihn, obwohl er wegen seiner schmerzhaften Fleischwunde anfänglich aggressiv war. Doch bald spürte er die Zuneigung und das Wohlwollen, bekam Futter und die für ihn vorgesehene Salbe. Ing adoptierte ihn sogar offiziell als neuen Klosterhund. Weil er so viel Glück hatte, nannte sie ihn Lucky. Als wir beide diese Zeilen lasen, waren wir berührt. Auf den Fotos, die Ing uns sendete war Lucky kaum wieder zu erkennen. Die Wunde war komplett verheilt und bereits mit Fell überdeckt.

Jeder kann helfen, wenn er will. Dafür gibt es jeden Tag die Chance. Nicht immer, doch oft bewirken Kleinigkeiten Großes, wenn wir bereit sind, hinzusehen und etwas zu tun.

Unterwegs

Rohit schildert uns akribisch den Ablauf dessen, was kommt, wenn wir uns für ihn entscheiden. Er steht vor einer selbstgemalten Karte und erklärt uns seinen Weg und die Vorzüge seiner kleinen Trecking Firma. Zuvor waren wir schon bei anderen Anbietern und haben uns auch deren Route und Konditionen erklären lassen. Wir sind in einem kleinen Ort Namens Kalaw, circa 300 Kilometer östlich von Bagan im Hochland Myanmars. 

Dieser Flecken Erde war schon bei den Briten während der Kolonialherrschaft wegen seiner Höhenlage (1.300 Meter) und dem damit vergleichsweise milden und kühlen Klima ziemlich beliebt. Nach deren Abzug hat sich hier ein touristischer Hotspot für Trekking- und Naturliebhaber entwickelt.

Die Luft ist angenehm erfrischend und die Zeit vergeht hier langsamer, als an allen anderen bisherigen Orten in Myanmar (ausgenommen von unserem Klosteraufenthalt, natürlich). Wir bleiben länger als die meisten Besucher in dem kleinen Städtchen, besichtigen die Tempel, den Markt, schlemmen uns durch die lokalen Restaurants und nehmen uns Zeit, unseren Trecking Guide vor Ort auszusuchen. 

Fünf verschiedene Dorfvölker mit jeweils unterschiedlichen Sprachen (keine Ahnung, ob das wirklich stimmt – selbst wenn nicht, klingt es doch irgendwie abgefahren und exotisch) sollen uns auf einer Strecke von rund 50 Kilometern in den kommenden drei Tagen auf dem Weg zum Inle-See begegnen. Rohit gibt sich bei seiner Präsentation viel Mühe, er scheint sich gut in der Gegend auszukennen, zudem macht er Witze. Er ist uns sehr sympathisch und so verabreden wir uns für den nächsten Tag. Ich bin etwas aufgeregt. Viele Wanderungen über mehrere Tage habe ich noch nicht hinter mir. Als Erwachsener ist das eine Erfahrung, die ich erst vor ein paar Monaten gemacht habe. Aber diese Wanderung können wir nicht mit einer Trecking-Tour in Neuseeland vergleichen. Hier gibt es weder Broschüren über die Route, noch Wegweiser oder Markierungen, die nahezu an jeder kleinen Gabelung den sicheren Weg zum Ziel zeigen. Hier müssen wir uns zu 100 Prozent auf unseren Guide verlassen. 

Pünktlich um 8 Uhr steht Rohit vor unserem Hostel. Wir sind bereit. Noch ist es kühl, aber beim Blick in den Himmel ahnen wir, dass dies nicht lang so bleiben wird. Alles wirkt üppig grün.

Schon auf den ersten Kilometern bemerke ich die hohe Dichte von Insekten, an die ich mich nur aus Kindheitstagen erinnere. Überall schwirrt und summt es um uns herum. Besonders freue ich mich über die vielen Schmetterlinge, die uns schrittweise tänzelnd begleiten. Ich liebe ihre Leichtigkeit und Schönheit, die sie in ihrem kurzen Leben ausstrahlen. 

Nach einem ersten Lunch-Picknick geht es weiter. Die Höhe und die Temperaturen steigen – es ist früher Nachmittag. Langsam wechselt die Vegetation. In der Ferne entdecken wir nur noch schwach bewachsene Hügel. Als wir an einem Dorf vorbeikommen, sehen wir auf der Straße zwischen den Wohnhäusern unzählige ausgebreitete dünne Laken, auf denen etwas Rotes zum Trocknen ausgelegt ist. Noch können wir nicht erkennen, was da liegt. Nach ein paar Schritten erriechen wir es. Chilischoten, sehr viele (wahrscheinlich sehr) scharfe Chilischoten. Überhaupt wächst hier vieles, was wir kennen – jedoch meist nur aus dem Supermarkt und nicht aus Omas Garten: Zitronen, Knoblauch und Tee.

Wir folgen dem Verlauf der Bahngleise. Öfter als ein- bis zweimal am Tag, so versichert uns Rohit, würde hier kein Zug vorbeikommen und heute wären diese bereits durch. Die stark bewachsenen Gleise scheinen seine Worte zu bestätigen. Als es dann durch einen ziemlich baufälligen Tunnel geht, schauen wir uns doch ein paar Mal um und ich bin froh, als kleiner Junge so viele Westernfilme gesehen zu haben. Ich weiß natürlich, wie die Ureinwohner Amerikas vorgegangen sind, um zu prüfen, wie weit das nächste Feuer-Roß entfernt ist: sie legten ihren Wangen und vor allem ihre Ohren auf die Gleise. Die kleinsten Vibrationen, die sie spürten, verrieten ihnen, wie weit entfernt entweder das nächste Ungemach oder die potentielle Beute noch entfernt war. Gedacht – gemacht. Hmm: da war nicht viel zu spüren oder zu hören, aber das da gar nichts war, würde ich auch nicht behaupten. Die freundlich entspannte Gelassenheit von Rohit zerstreut jedoch meine Bedenken. Ich nehme mir sogar Zeit für ein paar Fotos – wann habe ich schon mal Gelegenheit, dem Dauerbrenner aller Durchhalteparolen, dem „Licht am Ende des Tunnels“ ein passendes selbstgemachtes Foto zu widmen?

Kurz nachdem wir besagten Tunnel verlassen, hören wir Maschinengeräusche und treten schneller als erforderlich zur Seite. Tatsächlich – da kommt sie angetuckert: eine museumsreife rostgelbfarbene Rangierlokomotive im achtsamen Tempo, dennoch flotter, als wir es zu Fuß sind. Souverän rollt das Gefährt an uns vorbei. Mit einem freundlich- überraschtem Lächeln winke ich den Männern im Führerstand und auf der Ladefläche zu. Unser Guide tauscht Rufe mit Einem von ihnen aus. Kurz darauf kommt Emma zum Stehen (ich nenne sie so, da sie mich an die Lok aus „Jim Knopf und Lukas der Lokomotivführer“ erinnert). Wir dürfen bis zum nächsten Bahnhof mitfahren, was uns hilft, unseren Zeitplan einzuhalten, da wir bereits etwas spät dran sind. Das uns eine Lok auf ihrem Weg mitnimmt ist etwas, was wir in Deutschland wohl kaum erleben würden. Man kann doch nicht einfach mitten auf der Strecke anhalten und ausserplanmässig drei Wanderer einladen, auf die Ladefläche zu springen. Das stört nicht nur den eigenen Zeitplan, sondern ist bestimmt auch versicherungstechnisch höchst bedenklich. 

Im Bahnhof gibt es Tee, Kaffee und andere Wandertouristen, die hier ebenfalls Rast machen. Von hier aus sind es noch 45 Minuten bis zu unserem Home-Stay. Dieser letzte Abschnitt ist besonders schön, denn jetzt geht die Sonne langsam unter. Das Abendlicht über den grünen Wiesen ist wunderschön. Wir begegnen Menschen, die von ihrer Arbeit auf den Feldern heimkehren. Kinder, die von der Schule kommen, laufen schnell an uns vorbei oder überholen uns lachend auf lauten Motorrädern. Hin und wieder kreuzen sich unsere Wege mit Wasserbüffeln, die entweder von ihren Hirten getrieben werden oder einfach nur entspannt ein Schlammbad genießen, während ihr Besitzer daneben steht und geduldig wartet, bis das Tier seine Spa-Behandlung beendet hat. Rohit erklärt uns, dass der Besitz solcher Tiere hier zu großem Ansehen und Wohlstand beiträgt. Besonders glücklich schätzen sich die Bauern, deren Bullen für die Zucht immer wieder nachgefragt werden. Ein solches Tier kostet um die 1.000 Euro – soviel wie ein Lehrer hier im Jahr verdient. Jana findet diesen, in Relation sehr hohen Preis, angemessen und wünscht sich etwas ähnliches zuhause. In Deutschland kostet eine Milchkuh zum Beispiel nur 1.600 Euro. Wir unterhalten uns über die Haltung der Tiere und den Wert des Fleisches in unseren Ländern. Rohit kann kaum glauben, wie verhältnismässig billig Fleisch oder Wurstwaren bei uns sind. 

Einige Büffel und Wiesen später kommen wir kurz vor Sonnenuntergang an zwei etwas abgelegenen, nahe bei einander stehenden Häusern an. Kleine Kinder schwirren wie Bienen um sie herum. Als wir näher kommen, werden wir von einer älteren und einer jüngeren Frau freundlich zurückhaltend begrüßt. Es sind Schwestern, die hier zusammen mit ihren Männern und Kindern wohnen und heute unsere Gastgeberinnen sind. 

Kurz nach unserer Ankunft stellt eine der Frauen eine große Blechschüssel voller Nudeln mit noch etwas anderem darin auf eine robuste Unterlage zwischen die Häuser. Große und kleine Mädchen und Jungen sausen herbei und fallen genussvoll darüber her. Sie hocken sich um die Schüssel und fangen sofort an uns essen. Ihren Gesichtern nach zu urteilen, schlemmen sie gerade ein erstklassiges Menu, denn sie sehen zufrieden aus. In wenigen Minuten ist die Schüssel leer und die Kinder laufen wieder spielend um die Häuser. Ich halte noch einen Moment inne und erinnere mich an beobachtete Essenszenen der Familien in Deutschland. Da wird der kleine Engel auf einem Kinderstuhl an den Tisch der Erwachsenen gesetzt, bekommt fürsorglich ein Lätzchen umgebunden und sein Lieblingsessen wird auf kleinen Tellern mit fröhlichen Disney-Figuren serviert. Falls sich das Kind ziert, reden ihm Mama und Papa gut zu. Mitunter wird es gefüttert, obwohl es seine Kindergabel schon selbst halten könnte. Wenn es partout nicht kollaborieren will, wird mitunter auch mal der Fernseher oder das Tablet eingeschaltet, damit es abgelenkt ist. Dann macht es mechanisch den Mund auf und schluckt das Essen brav herunter.

Rohit spricht mich an und beendet damit meine gedankliche Eskapade in diese andere Welt. Er lädt mich ein, die Sachen in unserem Zimmer abzustellen. Wir dürfen in der Bel Etage, der oberen Ebene des Hauses, die Nacht verbringen. Es handelt sich um einen großen Raum mit Truhen voller Decken, flachen Regalen, einem kleinen aber mit Räucherstäbchen, Blumen und Opferbananen reich geschmückten Schrein, ein paar Teppichen und alten Hochzeitsbildern an den Wänden. Das ist das Wohnzimmer der vielköpfigen Familie. Es ist alles sehr einfach, ordentlich und ja – sauber. Komisch, dass ich das schreibe. Ich scheine es mir gemerkt zu haben, da es mich wohl überraschte. 

In der unteren Ebene befindet sich gleich links vom Eingangsbereich eine Feuerstelle, ich nenne es mal Küche, und weiter dahinter ein Ruhelager. Gehe ich nach dem Eintritt ins Haus geradeaus, sehe ich, direkt unter der Treppe, die zu dem Wohnzimmer hoch führt, einen Stall, in dem heute keine Tiere sind (vielleicht wegen uns?). Dieser ist von der Küche nur durch ein paar Balken und eine dünne Lehmwand getrennt. Es kommen Kindheitserinnerungen an das Haus meiner Großeltern hoch, die damals auch Tür an Tür mit Hühnern lebten.

Gemeinsam mit der Familie sitzen wir am Abend einige Zeit zusammen und trinken Tee. Dabei essen die Erwachsenen ihr Abendmahl, während die kleinsten Kinder auf dem Schoss der Mütter langsam einschlafen. Für uns wird danach im Wohnzimmer üppiger als für sie selbst aufgetischt. Wir entzünden eine Kerze und speisen an einem kleinen Tisch auf dem Boden sitzend. Es fehlt uns an Nichts und schmeckt ganz hervorragend. Unser Appetit ist riesig. Wir genießen die frische und würzige lokale Kost.

Während des Essens gesellen sich einige der älteren Kinder zu uns. Sie nehmen sich Kerzen, zünden diese an und stellen sie neben sich ab. Sie malen oder schreiben etwas und toben immer wieder miteinander herum. Es gibt, ausser uns beiden, keinen Erwachsenen, der diese Kinder beaufsichtigt. Die brennenden Kerzen stehen sehr wackelig nur wenige Zentimeter von ihren Füssen entfernt. Wie schnell würde das Malbuch, die trockenen Blumen auf dem Schrein, der Holzboden Feuer fangen, sollte die Kerze umfallen? Auch in diesem Moment muss ich an all die Eltern unseres Kulturkreises denken. So ein Szenario wäre kaum vorstellbar in einer Gesellschaft, in der Kontrolle, Sicherheit, Vorsicht und Angst einen grossen Einfluss auf die Entscheidungen haben. Was nicht alles passieren könnte! 

Am nächsten Morgen brechen wir früh auf. Die Luft ist noch kalt von der Nacht. Wir streifen durch verschiedene Dörfer, schauen Menschen bei ihrer Arbeit zu. Die Kleidung, die die Frauen hier tragen, ist anders als in den gestrigen Dörfern. Unser Guide bestätigt, sie gehören zu einer andere Ethnie. Wieder treffen wir auf Büffel, wandern an Teeplantagen vorbei und sind erneut von den knallroten Chilischoten fasziniert, die hier überall zum Trocknen ausliegen. Weniger anmutig sind all die riesigen Netze mit dutzenden, langbeinigen Spinnen darin. An einer Grundschule legen wir eine Pause ein und übergeben den Kindern Buntstifte. Das Spenden ist ein wichtiges Anliegen von Rohit. Einen Teil der Treckinggebühr seiner Kunden nutzt er, um bei jeder Wanderung einer anderen Schule oder einem Kloster eine Kleinigkeit zukommen zu lassen.

Auch heute übernachten wir wieder bei einer Familie. Das Haus ist etwas größer als das letzte und aus Stein gebaut. Auch hier leben die Menschen mit ihren Tieren zusammen, getrennt nur durch ein paar dünne Wände. Direkt gegenüber der Veranda, auf der wir am nächsten Morgen frühstücken, warten zwei prachtvolle Kühe und ein Büffel auf ihren Einsatz. Der aufkommende Nebel lenkt den Blick auf das Wesentliche. Eine Bauersfrau, die wahrscheinlich älter aussieht als sie ist, trägt eine vollbepackte Kiepe auf dem Rücken, in der sich Waren befinden, die sie an unseren Gastgeber verkaufen möchte. Sie plaudern freundlich miteinander. Danach zieht die Frau weiter, ohne etwas aus ihrem Korb geholt zu haben. Auch wir verabschieden uns von der Familie.

Die Kraft der Sonne ist noch nicht stark genug, um den Nebel aufzulösen. Schulkinder kommen uns mit viel Getöse auf unserem Weg entgegen. Wir kommen an dem einen oder anderen Kloster vorbei. Sie sind aus Holz und in schlichter Bauweise errichtet. Manche scheinen nicht im besten Zustand zu sein.

Als es beginnt, immer heißer zu werden, suchen wir schattige Wege und machen öfter eine Trinkpause. Die Landschaft auf dem letzten Streckenabschnitt sieht wieder etwas anders aus. Die Erde ist intensiv rot gefärbt. Auf unserem Weg liegen zahlreiche grosse, schwarze Steine. Diese Farben und die Hitze erinnern mich an unsere Wanderung rund um den Uluru in der Mitte Australiens.

Gegen Mittag kommen wir an unserem Zielort östlich des Inle-Sees an. Hier nehmen wir ein letztes gemeinsames Essen mit Rohit ein, bedanken uns herzlich und verabschieden uns von ihm. Er hat uns sehr gut durch das Hochland geführt, sich auf unser Lauftempo eingestellt und ist auf all unsere Fragen eingegangen. Er machte uns auf Dinge aufmerksam, die wir nicht bemerkten und konnte ebenfalls einfach schweigend neben uns wandern. Wir können ihn bedenkenlos empfehlen. Hier der Link zu seiner Webseite.

Bevor wir mit einem Boot weiterfahren, haben wir noch etwas Zeit, uns die Shwe Inn Dein Pagoden anzuschauen. Es wirkt surreal, dass sich dieses Gebiet wie eine Insel mit etlichen Baudenkmälern in dieser abgelegenen Gegend befindet. Über 1.000 Stupas, Pagoden und Tempel verteilen sich dschungelartig auf dem rund ein Quadratkilometer großen Areal. Viele Ruinen sind bereits verfallen oder wurden vor langer Zeit von Plünderern und Eindringlingen angegriffen. Auch die Natur ist den Pagoden nicht freundlich gesonnen. Sträucher überwuchern die Steine, kleine Bäume ragen aus ihren Dächern heraus und die Baumwurzeln haben sich magisch um die alten Backsteine gewickelt. Auch in diesem Meer beeindruckender Pagoden und Stupas spüren wir wieder die Spiritualität und die positive Energie, die hier seit Jahrhunderten herrscht.

Zurück im Hafen geht es mit einem anderen Touristenpärchen über den Nam Pilu- Kanal einige Kilometer mit dem Boot gemütlich durch den von Bäumen gesäumten Zufluss stromaufwärts. Unser Ziel ist Nyaung Shwe, eine 70.000 Einwohner-Stadt am Inle-See. Dieser ist mit seinen 22 Kilometern Länge der zweitgrößte See in Myanmar. 

Wir tuckern gemächlich an schwimmenden Stelzenhäusern und Gemüsegärten vorbei. Zwischendurch stoppen wir, um uns die manuelle Herstellung von Tüchern und Schmuck anzuschauen, der dort obligatorisch allen Reisenden zum Kauf angeboten wird. Wir halten uns wie meistens zurück. Auf dem See sehen wir erst aus der Ferne, dann immer näher rückend die Fischerboote. Einige von ihnen drehen sich zu uns und zeigen, wofür dieser See inzwischen weltberühmt ist: die auf einem Bein stehenden Fischer. Vermutlich wundern sich die Männer selbst, wie einfach Touristen aus aller Welt zu beeindrucken sind. Ich gebe zu, mich hat es auch erwischt. Es sieht eben sehr geschmeidig aus, wie sie ein Bein mit einem kurzen Ruder verlängern, um beide Hände frei zu haben für ihre Bambusreusen oder fürs Netz. Es gibt Rechts- und Linksbeiner. Ihre fließenden, mal anmutigen, mal kraftvollen Bewegungen vor der Kulisse der Shan-Berge wirken auf uns wie ein Tanz. Auch wenn es anfangs etwas seltsam aussieht, empfinde ich ihre langsamen ausbalancierten Bewegungen als ästhetisch und anmutig.

Auf unserer Bootsfahrt versuchen Jana und ich die Eindrücke der letzten Tage noch einmal Revue passieren zu lassen. Alles wirkt hier so harmonisch, friedlich und sorgenfrei. Ganz sicher ist das ein Trugschluss, denn das Leben hier ist alles andere als einfach. Die Menschen, die wir getroffen haben, müssen körperlich hart arbeiten und ihre Häuser sind nur mit dem Nötigsten ausgestattet. Wieso spüren wir dann trotzdem diese besondere offen-freundliche und ruhige Stimmung überall? Machen sich die Menschen hier weniger Gedanken und lassen das Leben einfach fließen? Egal, was dahinter steckt: Wir versuchen dieses Gefühl in uns aufzusaugen, um es mitzunehmen. Wir haben nicht nur viele Kilometer, sondern auch noch einige Sommer vor uns. Unser Weg wird hier nicht enden, wir werden noch lange unterwegs sein. 

P.S. Wir schreiben und veröffentlichen diesen Artikel im Jahr 2021, zwei Jahre nach unserer Reise durch Myanmar. Wie ihr in unseren Beiträgen lesen könnt, waren wir beeindruckt von der freundlichen, ruhigen, positiven und zuversichtlichen Grundstimmung der Menschen. Wir haben die Burmesen als überaus spirituell und friedliebend wahrgenommen. Dass sie nun schon seit mehreren Monaten wieder Gewalt und Unterdrückung von Oben erfahren müssen, macht uns traurig. Wir hoffen, dass der Konflikt beendet und die Demokratie rasch wieder einziehen wird.

Mehr als heiße Luft

Zusammen mit 16 anderen Menschen bin ich in einer korbgeflechteten Gondel den wenigen Wolken über mir näher als der Erde unter mir. Kinder schauen hinauf und winken uns lachend und lärmend zu. Wir schweben über dutzende Pagoden und Stupas, die hunderte von Jahren alt sind und sich wie in einem riesigen Freilichtmuseum bis zum nebligen Horizont auftun. In das Rot der aufgehenden Morgensonne mischt sich der Morgendunst. Die Stimmung ist genauso, wie ich sie aus den Bildern und Videoaufnahmen aus Bagan kenne. 

Doch der Reihe nach: Die Tage der intensiven Meditationen sind vorüber. Ein Taxi bringt uns zurück nach Mandalay. Am nächsten Morgen brechen wir nach Bagan auf. Das mit Touristen gut besetzte Boot benötigt nicht viel Benzin, um dem größten Fluss des Landes, dem Irrawaddy, stromabwärts zu folgen. Unser Tempo korreliert mit der gefühlten Grundstimmung in dieser Region: heiter gemächlich. Es ist feucht, heiß und wir sind ebenfalls gelassen zuversichtlich.

Nach einer längeren Weile legt der Kapitän einen Zwischenstopp in Yandabo, einem sehr kleinen Dorf, ein, welches scheinbar nur über das Wasser zugänglich ist. Fast alle Fahrgäste nutzen diese willkommene Abwechslung, um sich ein paar Schritte zu bewegen. Nur die Familie aus Berlin bevorzugt den Blick auf das Dorf aus dem sicheren Boot, beim Konsum des lokalen Bier und aus ihrer Heimat mitgebrachten Zigaretten. 

Doch wir nehmen das Angebot an und bekommen einen Einblick in die Töpfer- und Tonkunst, die in diesem Dorf von einigen Familien seit Jahren gepflegt wird. Der eine oder andere Kauf dieser Gefäße wird natürlich gern gesehen. Wir mit unserem leichten Gepäck denken nicht einmal darüber nach. Abgesehen von unserem eher geringen Interesse an solchen Behältnissen bleiben wir bei unserer Einstellung, unnötigen Reiseballast zu vermeiden. Danach geht es weiter und wir schippern langsam in den Sonnenuntergang. Ich genieße diese kitschigen Bilder, die die Sehnsucht meiner romantischen Persönlichkeitsanteile stillt.

Bagan ist ein ebenso historischer wie faszinierender Ort. In der alten Königsstadt befinden sich über zweitausend erhaltene Sakralgebäude aus Ziegelstein. Die Tempel erstrecken sich über circa 36 km² (rund 5.000 Fußballfelder) in einer versteppten Landschaft und bilden eine der größten archäologischen Stätten Südostasiens, die auch zum UNESCO-Weltkulturerbe zählen. Das genaue Alter Bagans ist unbekannt. Es wird auf über 1100 Jahre geschätzt. Das frühere Pukam zählte neben Angkor Wat (Kambodscha) zu einer der größten Städte im Mittelalter weltweit. Die Anlage war größer als das damalige Paris oder London. Im Gegensatz zu den großen Städten und Touristenattraktionen, wie Mandalay oder Yangon, die beide Millionenstädte sind, leben im erst 1989 umbenannten Bagan lediglich 22 000 Menschen. Dadurch sind die Folgen des Tourismus und religiöser Pilgerfahrten hier stärker zu spüren. Das Verhältnis zwischen Einwohner- und Gästeanzahl befindet sich nicht im Gleichgewicht. Die Restauration vieler Tempel nach dem großen Erdbeben 2016 wurde durch das Beklettern der Tempelanlagen durch Besucher behindert oder verstärkte die Schäden. Zeitweise Einschränkungen wurden zur Ankurbelung des Tourismus relativ kurzfristig wieder aufgehoben. Wir sahen auf unserer Visite kaum Hinweise, bestimmte Areale nicht betreten zu dürfen.

Weder Jana noch ich sind zuvor in einem Heißluftballon geflogen. Als wir uns für Myanmar als Reiseziel entschieden, liebäugelte ich sofort mir dieser kontrollierten Mutprobe. Einige Erzählungen, sowie Fotos im Internet machten mir Appetit. Aufgrund der thermischen Bedingungen sind Flüge nur von etwa Mitte Oktober bis Ende März möglich. Das passt gerade mit unserem Aufenthalt, um beim Saisonstart dabei zu sein. Wenn wir schon einmal in so einem Ballon fliegen wollen, dann doch wohl hier. Wegen der nicht gerade backpackerfreundlichen Preise (rund 300 Euro pro Person) zögern wir eine Weile – und entschieden uns dennoch dafür.  Bereut haben wir es nie und sind sehr froh, uns diese Momente der ewigen Erinnerung gegönnt zu haben. Eine Wunschliste mit all den Dingen, die wir gemacht haben wollen, bevor wir den „Löffel“ abgeben, haben wir nicht. Wenn es sie gäbe, stünde diese Heißluft-Ballonfahrt über Bagan jedoch sicher darauf.

Unser kleines Abenteuer beginnt mit einem morgendlichen Blick in die Finsternis, die schleichend in die Dämmerung übergeht. Vom Hotel werden wir stilvoll in einem alten, englischen Bus zum Startplatz mit etwa einem Dutzend noch schlaff am Boden liegenden Ballons chauffiert. Die Gäste werden durch viele sehr freundliche und in einheitlicher Kleidung agierende Menschen „ihren“ Luftschiffen zugeordnet und in einem großen Kreis platziert. Dort werden uns Tee, Kaffee und Kekse gereicht. Inzwischen ist die Tür zum Tag weit geöffnet, die Sonne ist aufgegangen und wir erhalten unser Sicherheitsbriefing. Der Pilot kommt ebenfalls aus England und ist schon einige Jahre dabei. Ihm ist die große Freude anzumerken, die ihm seine Arbeit bereitet. Selbst seine Warnhinweise trägt er mit einer Melodie der Leichtigkeit vor, die ich eher bei Hochzeiten oder Geburtstagen erwarten würde. (Obwohl, ich erinnere mich bei meinen Hochzeiten an keinerlei Sicherheitshinweise des durchführenden Personals – im Nachhinein betrachtet wäre das eventuell nützlich gewesen.)

Zeitgleich werden alle Ballons mit der erforderlichen heißen Luft gefüllt. Überall sind kleine feuerspeiende Drachen zu sehen, jedenfalls wenn ich nicht genau hinschaue. Es dauert eine ganze Weile bis sich die ersten von ihnen langsam aufrichten. Kurz bevor auch unser Ballon startklar ist, werden uns noch freundliche Hinweise zum Ein- und Aussteigen gegeben. Für kleinere Menschen als Jana und mich ist dieser Teil des beginnenden Abenteuers die erste turnerische Herausforderung. Den Vorteil, den wir aufgrund unserer längeren Beine eigentlich haben, ist jedoch dahin, weil wir beide einen Longyi tragen (den traditionellen langen Rock der Burmesen). Dann geht es los. Alles muß sehr schnell gehen, wenn der Zeitpunkt erreicht ist, dass der Ballon anfängt emporzusteigen. Es ist soweit – wir heben ab, so sanft, dass wir es kaum wahrnehmen.  

Wir steigen schnell und zischend auf. Der Heißluftbrenner arbeitet kraftvoll, damit wir weiter an Höhe gewinnen. Im Wissen, dass dieser riesige Ballon nur in der Höhe, nicht aber in der Richtung steuerbar ist, lege ich mein Vertrauen in den etwa Mitte 50jährigen Piloten. Er nutzt die verschiedenen Höhen und die darin herrschenden Winde, um die Richtung zu halten, steigt mal nach oben, mal nach unten. So navigiert er uns so souverän die rund 45 Minuten, dass ich mich immer sicher fühle und den Flug entspannt genieße. 

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Es fällt mir schwer, die Höhe zu schätzen. Sie reicht aus, dass die Hütten, Stupas, Tiere, Menschen, Bäume, Felder wie eine riesige Modelllandschaft aus Kinderzeiten mit Eisenbahnen oder das Miniatur Wunderland in Hamburg wirken. Es ist ein bisschen wie im Flugzeug und doch ganz anders: die Flughöhe, der unmittelbare Außenkontakt und …. diese hörbare Stille, wenn der Heißluftmotor einmal nicht arbeitet. Wir gleiten nur vom Wind getragen durch die Lüfte. Es fühlt sich beinahe selbstverständlich an. Meine Gedanken schweifen ab und ich sehe mich schon auf der nächsten Evolutionsstufe des Menschen, der für sich allein durch die Lüfte schweben kann. Was für eine Vorstellung! Ich spüre Freiheit, Unabhängigkeit und Freude darüber, mich erneut einer zugegebenermaßen nicht allzu großen Angst, aber immerhin doch Angst, gestellt zu haben. Das Licht der Morgensonne, die mystisch-sakralen Tempel und das Schwarmgefühl mit den mit uns fliegenden Ballons erheben diesen Moment zu etwas ganz Besonderem. Ich fühle mich wie in einem kunstvoll arrangierten Bild eines berauschten Malers. Doch ich bin hier, jetzt und eins mit mir – Ruhe in mir und außerhalb von mir. Dazu gibt der aufsteigende Rauch dem Ganzen etwas mystisches. Unsere Vorstellung, dass es sich dabei um Morgennebel handelt, müssen wir allerdings aufgeben. Wie konnten wir auch denken, dass es hier zu solchen auf dem Boden aufliegenden Wolken kommt? Dazu müssen sich die erdnahen Schichten in der Nacht richtig abkühlen und dies wird hier bei Temperaturen um die 32 Grad am Tag und um die 25 Grad in der Nacht nicht passieren. Aus der Höhe sehen wir es nun ganz deutlich, der Rauch kommt von den vielen kleinen Feuerstellen, an denen die hier lebenden Menschen ihren Müll verbrennen. Und da ist er wieder der Moment, wenn mich die Realität wieder schneller auf den Boden der Tatsachen bringt, als der Heissluftbalkon. 

Auf einmal ruckelt es an der Gondelunterseite. Wir haben einen Baum gestreift. Kurze Aufregung und gleich auch wieder Entwarnung. Der Landeanflug geschah wohl etwas flotter als geplant. Etwa ein Dutzend Helfer eilen herbei, die unseren Ballon an mehreren Seilen langsam nach unten ziehen. Das letzte Hopsen beim Aufkommen spüre ich nicht stärker, als ein Schlagloch auf einer Fahrradtour. Gesund und munter endet unser luftiger Ausflug.

Vor dem Hintergrund unseres englischen Oldtimerbusses werden den Mitreisenden und uns Snacks, Kaffee und sogar Champagner gereicht. Ein perfekter Abschluss dieses außergewöhnlichen Morgens. Wir sind sehr dankbar und froh, diesen Ausflug gebucht zu haben.

Eine Erinnerung für das ganze Leben.

Schweigen, Schwitzen, Schlafen – Teil 2

Der zweite Tag beginnt für uns heute, wie für alle hier Anwesenden, um halb vier Uhr Morgens. Oder soll ich lieber „Nachts“ schreiben? Nicht der Hahn, sondern der diensthabende Mönch weckt mich und die anderen mit einem dumpfen Klanginstrument, welches mich an große aufeinander schlagende Holzlöffel erinnert.

Als ich mitten in meiner Tiefschlafphase den lauten, dumpfen Gong vor meiner Tür höre, schrecke ich aus dem Bett hoch. Obwohl ich gestern sofort eingeschlafen bin und ich somit theoretisch ausreichend Stunden Schlaf hatte, fühle ich mich wie gerädert. Nach einer schnellen Katzenwäsche taumle ich im Halbdunkeln Richtung Meditationshalle. Ich merke, dass ich im Vergleich zu den anderen Frauen, die achtsam einen Fuss vor den anderen setzen, noch sehr unkoordiniert gehe. Es ist einfach zu früh und ich bin noch nicht richtig wach. Neben der Trinkwasserstelle steht ein Baum und während das Wasser langsam meine Flasche füllt, beobachte ich einen Hahn im Baum, der versucht, wieder einzuschlafen. Er dreht sich mehrfach auf dem Ast im Kreis und steckt sein Köpfchen abwechselnd ins Gefieder und wieder aus dem Gefieder, um die Menschen zu beobachten, die an ihm vorbeilaufen. Er fühlt sich sichtbar gestört. Ich muss schmunzeln – verkehrte Welt!

Nach dem Frühstück habe ich die Gelegenheit mit dem Meister und Ing persönlich zu sprechen. Er erklärt, dass die Art des Vipassanas, die wir hier praktizieren auch Labelmeditation genannt wird. Allen Objekten, Empfindungen und Gedanken werden Etiketten verpasst. Wenn er also den rechten Fuss hebt, dann beschreibt er das gedanklich mit „lifting right foot“, wenn ihm das Sitzen Schmerzen bereitet, dann nimmt er diese wahr und notiert in seinem Kopf gedanklich „pain“. Dadurch werden alle Zustände anonymisiert und eine Distanz zu ihnen wird aufgebaut. Das hilft, schneller bei sich zu sein. Er empfiehlt für die Meditation zuhause einen fixen Termin. Auf meine Frage antwortet Kyunpin Sayādaw, das er Mönch geworden sei, weil er schon immer gern allein war. Trost spendend empfand ich seinen Hinweis, dass er trotz jahrelanger täglicher Meditation noch immer Momente hat, in denen er „angry“ (also verärgert) sei. Dies komme jedoch nur selten vor. Mit einem verschmitzten Lächeln erwähnt er, das Ing über diese Momente Bescheid weiß, da sie seinen Ärger am meisten spürt.

Sie erklärt, das laut der hier gelebten buddhistischen Philosophie alle Gedanken, Gefühle oder Geräusche nur Objekte sind, die nichts mit dem „Ich“ zu tun haben. Sie kommen und gehen und sind nicht mit dem „Selbst“ verbunden. Auf meine Frage, was dann noch von mir übrig bleibt, höre ich: 

NICHTS. 

Hmm – eine irgendwie unbefriedigende Antwort. Zum Schluss bekomme ich von Ing noch einen kleinen Hocker, damit ich in der Sitzmeditation nicht ständig das Label „Pain“ vergeben muss. 

Ing sagte uns bei der Einführung, dass es völlig normal sei, dass die Beine nach einer gewissen Zeit im Schneidersitz einschlafen und dies Schmerzen verursacht. Wir sollen den Schmerz einfach bewusst wahrnehmen, ihn etikettieren und warten, bis er wieder verschwindet. Bei mir verschwindet er jedoch nicht, im Gegenteil – er wird immer schlimmer, je länger ich in dieser Position sitzen bleibe. Normalerweise hätte ich mich schon längst bewegt, doch nun zwinge ich mich, ihn auszuhalten, bis er nachlässt. Minuten vergehen. Ich versuche auf meinen Atem zu achten, doch der Schmerz wird immer intensiver. Mein Geist driftet immer öfter zu dem Pochen in den Beinen und ich kämpfe gedanklich gegen den immer grösser werdenden Drang, mich zu bewegen. Die Neugier, ob der Schmerz tatsächlich aufhört, ist jedoch noch grösser und so halte ich weiter in der quälenden Position aus. Weitere Minuten vergehen. Auf meinen Atem kann ich nicht mehr achten, alle meine Gedanken sind bei dem Schmerz. Ich erwische mich, wie ich gedanklich fluche. Dennoch harre ich weiter aus. Während ich so still und regungslos auf meiner Matte sitze und von aussen eventuell sogar tiefenentspannt wirke, führe ich im Inneren einen brutalen Kampf: Körper gegen Willenskraft. Der Schmerz ist überwältigend, aber ich bewege mich nicht. Doch nun holt mein Geist einen Joker heraus, an den ich bis jetzt noch nicht gedacht habe: Es tauchen nun Sorgen über meine Gesundheit auf. Wie clever. Was ist, wenn ich mir gerade einen Nerv abklemme? Ich erinnere mich an das Taubheitsgefühl im kleinen Finger der rechten Hand, unter welchem ich vergangenes Jahr nach einer langen Fahrradtour noch Monate danach litt. Das möchte ich nicht nochmals durchmachen und so beschliesse ich kurzum, den Kampf aufzugeben und auf den Körper zu hören. Ich bewege mich zaghaft, um die anderen nicht zu stören. Jede kleinste Regung tut höllisch weh, am liebsten möchte ich aufschreien. Es ist, als ob mich mein Körper für dieses Experiment bestrafen will. Ich ziehe eine Lehre daraus und beschliesse, in Zukunft auf aufkommende Schmerzen zu reagieren und meine Position viel früher zu ändern. 

Am Abend des dritten Tages fühle ich mich lustlos und leicht frustriert. Ich mache keine Fortschritte, was meine Meditationspraxis angeht. Besonders bei der Sitzmeditation drifte ich häufig ab. Die Gedanken kommen und wollen oft nicht wieder gehen. Zudem schleichen sich auch negative Gedanken ein. Das nervt. Ich fühle noch immer Wut und Traurigkeit, wenn ich an Menschen denke, die mir früher sehr nah standen und die mich verletzt haben. Vielleicht finde ich ja hier den Schlüssel, der die Tür der Akzeptanz und des respektvollen Abstandes endgültig öffnet. Ich erinnere mich an die Worte von Ing, dass alle Gedanken, Gefühle und Objekte, die ich wahrnehme, nichts mit meinem Selbst zu tun haben. Alles kommt, geht und vergeht. Nichts ist beständig. Wenn ich das verinnerlicht habe, dann habe ich die erste Stufe zum Nibbana (in Palisprache „Erlöschen“ oder „Erwachen“ bzw. Nirwana in Sanskrit) erreicht.

Am nächsten Morgen beim Frühstück sehe ich Jana, wie sie langsam zu ihrem Platz geht. Sie sieht müde und zermürbt aus. Unsere Blicke treffen sich beim Essen und ich lege meine Hand auf mein Herz, unser Zeichen für „Alles gut“. Sie erwidert meine Geste nicht und steckt mir stattdessen beim Verlassen des Raumes einen Zettel zu. Sie überlegt, abzubrechen, da sie mit der Dauer und Art der Meditation Schwierigkeiten hat. Ich kann sie gut verstehen. Der Tagesablauf lässt neben den Meditationen und Mahlzeiten kaum Zeit zur freien Verfügung übrig. Hinzu kommt, das sich die Sitz- und Gehmeditation im Verhältnis 7:4 aufteilt. Selbst im bequemsten Couchsessel ist ein bewegungsloses Sitzen über sieben Stunden eine Herausforderung. Mittags steckt mir Jana erneut ein Stück Papier zu. Darauf steht, dass Ing ihre Bedenken offenbar nicht Ernst nimmt und sie als die üblichen Anfängerprobleme einordnet. Ein Abbruch der Meditation ist zwar jederzeit möglich, jedoch mit dem umgehenden Verlassen des Klosters verbunden. Das möchte Jana auch nicht und so übt sie sich in Akzeptanz und bleibt dran. Immerhin ist heute der vierte von insgesamt sieben Meditationstagen zu Ende gegangen.

Ich fühle mich unendlich müde. Während den Sitzmeditationen überkommt mich immer wieder die Müdigkeit. Wie ein Schleier hüllt sie mich ein und zwingt mich förmlich in den Schlaf. Und so döse ich regelmässig ein und wache erst wieder auf, wenn ich merke, wie ich zur Seite kippe. In dem Moment erschrecke ich, setze mich wieder gerade hin und versuche mich erneut auf meinen Atem zu konzentrieren. Das klappt nur eine kurze Weile, denn auch bei mir wirren die Gedanken durch den Geist. Mir scheint, als ob mich mein Geist mit immer attraktiveren Überlegung von meiner Achtsamkeitsübung abhalten will. Es fällt mir schwer eine kreative Idee einfach ziehen zu lassen und so hafte ich ihr oft an, verfolge die Spur und komme von einem Gedanken zum nächsten. Bis mir bewusst wird, dass ich erneut von meiner Atembeobachtung abgekommen bin vergehen oft Minuten. Wenn ich mich dann wieder auf das Heben und Senken der Bauchdecke konzentriere und es schaffe, die Gedanken bewusst ziehen zu lassen, klopft im nächsten Moment auch schon die Müdigkeit wieder an. Ganz nach dem Motto: „willst du nicht denken, so sollst du schlafen“ Und so gebe ich es erneut auf. Ich setze mich auf meine Knie und beuge mich nach vorne, den Kopf lege ich auf meinem Kissen ab. Obwohl diese Hockposition absolut nicht bequem ist, schlafe ich sofort ein. 

Es scheint hier übrigens völlig üblich zu sein, das Mönche und Yogis locker entspannt sämtlichen Blähungen nachgeben und furzen, was das Zeug hält, egal welche Meditation sie gerade ausüben oder in welcher Schlange sie gerade stehen. Es scheint ihnen wirklich gleichgültig zu sein – was raus muß, muß raus. Mit dem Rülpsen verhält es sich im Übrigen ebenso. Ich werde das Gefühl nicht los, das damit das Schweigegelübde auf ziemlich subtile Art umgangen wird unter dem Motto „Wenn ich schon nicht reden darf, dann mache ich eben mit Furzen und Rülpsen auf mich aufmerksam.“

Am nächsten Tag geht es mir schon besser. Ich habe beschlossen, die Woche hier durchzuziehen und das Beste daraus zu machen. Das bedeutet für mich, die Meditation nicht mehr so ernsthaft zu betreiben. Ich gebe mich von nun an meinen Gedanken hin, wenn mein Körper schmerzt, dann wechsele ich die Position und wenn mich der Schlaf überkommt, dann hocke ich mich so hin, dass ich für ein paar Minuten die Augen schliessen kann. Zudem schwänze ich ein paar Meditationsstunden und lege mich stattdessen zum Schlafen in mein Bett oder führe in meinem kleinen Bungalow Dehn- und Kraftübungen aus. All das ist natürlich nicht im Sinne der Vipassana Meditation, aber es für mich der Weg, wie ich die restlichen Tage hier überstehe.

Nach dem heutigen Frühstück steckt mir Micha einen Zettel mit lieben Worten und Durchhaltewünschen zu. Ich danke ihm so sehr dafür, lächle ihn an und lege meine Hand auf mein Herz. 

Über Illusionen

Gestern Abend war ich noch begeisterte Zuschauerin der Mass Games. Ich habe tausende junge Menschen bei ihrer akkurat ausgeführten Gymnastik beobachtet und war fasziniert von der uns dargebotenen Show. Wie der Name bereits sagt, es war ein Spektakel der Massen. Einzelne Menschen konnte ich nicht erkennen. Natürlich wusste ich, dass jeder einzelne Darsteller für diese exakte Synchronisierung der Bewegungen Höchstleistung vollbringen muss, doch ich blendete den Einzelnen in diesen Stunden aus. Ich bewunderte die Gemeinschaftsleistung und ich ließ mich mitreißen von dem Spektakel, der emotionalen Musik, der jubelnden Menge und der so geschaffenen Atmosphäre im Stadion.

Für die meisten Reisenden aus unserer Gruppe war es der letzte Abend in Nordkorea , doch Micha und ich entschieden uns bereits bei der Buchung für eine Verlängerungsnacht in Sinuiju. Die Grenzstadt zu China liegt auf unserem Rückweg und unser Reiseveranstalter bot jedem Zugreisenden, der sich noch ein weiteres Bild vom Land machen wollte, diesen zusätzlichen Zwischenstopp an.

Und so sitze ich heute erneut als Zuschauerin vor einer Gruppe von Artisten, die ebenso ihr Bestes geben. Auch heute staune ich über die präzise ausgeführten Bewegungen und die Synchronität der Gruppenmitglieder. Doch diesmal sitze ich viel näher an der Bühne und sehe die kleinen Künstler direkt vor mir. Die Protagonisten sind Kinder im Alter zwischen vier und etwa sieben Jahren. Ich schaue in geschminkte Gesichter mit weit aufgerissenen Augen und einem eindeutig künstlichem Lächeln. 

Heute sehe ich jeden Einzelnen. Ich sehe kleine, zierliche Körper, die in bunten Kostümen stecken. Vor mir singen, tanzen, turnen und musizieren Jungen und Mädchen eines, wie uns gesagt wurde, „ganz normalen Kindergartens“. 

Der Programmpunkt „Besichtigung eines Kindergartens“ ist eingebettet zwischen dem „Revolutionsmuseum“ und der „Kunstgalerie“. Ich war so naiv zu glauben, dass wir hier spielende Kinder besuchen würden. Kinder, die draußen im Sandkasten kleine Burgen bauen, herumtoben oder drinnen vielleicht etwas basteln würden. Ich stellte mir Szenen vor, die ich von meiner eigenen Kindergartenzeit kenne. Dass diese Einrichtung jedoch kein gewöhnlicher Kindergarten sein konnte, wird mir bereits auf dem Parkplatz mit voller Wucht bewusst. Vor dem grossen Gebäude gibt es einen noch grösseren betonierten Platz, der den riesigen Flächen vor europäischen Baumärkten sehr ähnlich sieht. Nur das in diesem Land kaum jemand ein Auto besitzt und der Platz demnach einzig für Touristenbusse angelegt wurde. Als wir ankommen strömen bereits mehrere Gruppen von chinesischen Besuchern auf den Haupteingang zu.

Wir werden in das Gebäude geführt und sollen gleich hinauf in den dritten Stock gehen, ins Auditorium. Ins Auditorium? Dieses Wort assoziiere ich mit einer Universität, nicht mit einem Kindergarten. „Oh je, wo bin ich hier?“, denke ich erneut. Ich schaue mich um, sehe aber keine Spur von spielenden Knirpsen. Einzig die bunt bemalten Wände und die darauf klebenden Comicfiguren erinnern an einen Kindergarten. Auf dem Weg nach oben versuche ich in die einzelnen Zimmer reinzuschauen, doch die Türen sind fast alle verschlossen. Nur aus einem Raum erklingt Musik, die Tür ist halb offen und ich kann ein kleines Mädchen und eine Erzieherin an einem Klavier sitzen sehen. Oben angekommen ist der Saal bereits gut gefüllt. Mehrere hundert Touristen aus dem großen Nachbarland sitzen bereits auf den Stühlen und warten, dass wir Europäer nun auch endlich Platz nehmen. Ich kann es kaum glauben, wir sind tatsächlich in einem Auditorium. Die Sitzreihen sind nach hinten steigend angeordnet, um von allen Plätzen eine gute Sicht auf die Bühne zu gewährleisten.

Als der Vorhang aufgeht, stürmen um die 50 Kinder auf die Bühne. Sie stellen sich auf, singen ein Lied und neigen dabei ihre Köpfchen im Gleichtakt nach Links und nach Rechts. Zum Schluss springen sie, jubeln und klatschen in die Hände. Das ist der Auftakt zu einer einstündigen Show.

Die Leistung der Kinder ist absolute Weltklasse, die ich sehr würdige und für die ich am Ende auch applaudiere. Ich kann es jedoch nur schwer aushalten, in die Gesichter der Jungen und Mädchen zu schauen. Sie wirken sehr steif, ihr Lächeln ist aufgesetzt und ihre Augen haben keinen Glanz. Diese Kleinen haben, außer ihrer Körpergröße, nichts Kindliches an sich. Welche Disziplin (und welchen Drill) braucht es, um in dem Alter so eine Leistung abrufen zu können?

Die jungen Bühnenkünstler machen während der gesamten Vorführung keinen einzigen Fehler. Sie jonglieren mit Fussbällen (ohne das auch nur ein Ball herunterfällt), spielen verschiedene Instrumente (ich höre keinen einzigen schiefen Ton) und sie hüpfen beim Seilspringen über mehrere Seile gleichzeitig (ohne sich dabei zu verheddern). 

Zwischen den akrobatischen Darbietungen wird auch immer wieder gesungen. Auf einmal stimmen die kleinen Nordkoreaner dem Anschein nach ein bekanntes chinesischen Volkslied (auf chinesisch wohlgemerkt) an. Die Gäste aus dem Nachbarland erkennen es sofort, johlen, singen lautstark mit und klatschen im Takt dazu. Sie zeigen großen Gefallen an der Aufmerksamkeit, die ihnen mit diesem Lied gewidmet wird. Die Knirpse wirken in dem Moment wie elende Tanzbären, die nur tun, worauf sie abgerichtet wurden. 

Mir geht es während der Vorführung überhaupt nicht gut und je länger sie dauert, umso stärker wird mein Unwohlsein. Ich mache mir Gedanken über die Methoden, mit denen diese Kinder wohl zu solchen Höchstleistungen gebracht werden. Natürlich weiß ich es nicht, aber ich habe ein sehr ungutes Gefühl. Ich überlege ernsthaft, was ich machen soll. Aufstehen und einfach gehen? Aufstehen und etwas sagen? Abwarten und später mit den Verantwortlichen sprechen?

Ich bin niemand, der den Konflikt sucht oder andere Menschen unnötig herausfordert. Im Gegenteil, je ruhiger und je harmonischer ich meine Umwelt wahrnehme, desto wohler fühle ich mich. Aber ich kann mich nur schwer zurücknehmen, wenn ich eine offensichtliche Ungerechtigkeit beobachte. Und so denke ich über meine Handlungsoptionen nach, während vor mir die Kinder und ihre Erzieherinnen ihr tagtägliches Bühnenprogramm absolvieren.

Wären wir nicht in Nordkorea, ich würde in einer solchen Situation sicher etwas unternehmen. Aber in diesem Land traue ich mich nicht aufzumucken und etwas zu kritisieren. Und so bleibe ich doch sitzen und hoffe einfach, dass es bald aufhört und ich diesen Ort endlich verlassen darf.

Nach der Veranstaltung frage ich unsere Reiseleiterin, ob dies tatsächlich ein „ganz normaler Kindergarten“ sei. Sie antwortet mit „Ja, natürlich“. Mit gehobenen Augenbrauen frage ich nach: „Bist du auch in einen solchen Kindergarten gegangen?“. Wieder bekomme ich nur ein knappes „Ja, natürlich“ als Antwort. Ein erneutes Nachfragen würde mich nicht weiterbringen und so schlucke ich meinen Unmut hinunter und steige mit einem sehr schlechten Gefühl wieder in den Reisebus.

Als wir am Abend wieder die Grenze zu China passieren bin ich sehr erleichtert, dass die Ausreise unkompliziert abläuft. Und ich bin in gewisser Weise froh, dass wir diesen Zwischenstopp hier in Sinuiju noch eingelegt haben. Denn die Besichtigung des lokalen Museums, einer weiteren Fabrik, einer Kunstgalerie und vor allem des Kindergartens verändern den Gesamteindruck, den ich von Nordkorea mitnehme.

Der Grenzfluss teilt Welten. Hier braches Land – dort Hochhäuserwettkampf.

Die Programmpunkte in den ersten Tagen waren zwar ebenfalls extra für ausländische Gäste ausgewählt und streng organisiert. Unsere Reiseleiter achteten immer sehr darauf, dass wir in der Gruppe bleiben, ja nicht trödeln oder (viel schlimmer!) verloren gehen. Wir sollten nur das sehen, was uns gezeigt wurde. Allerdings wurde uns mit dem Einkaufsbummel in einem Supermarkt, der Fahrt mit der Metro und dem Besuch des Naherholungsparks auch ein gewisser Einblick in den Lebensalltag einiger Bewohner von Pjöngjang gegeben. Dass nur wenige privilegierte Bürger diese Orte besuchen und davon profitieren können war mir durchaus klar, aber allein die Existenz dieser Plätze stimmte mich überraschend optimistisch. Dieses leicht positive Gefühl passte nicht zu den Berichten aus Dokumentarfilmen und Büchern, die ich vorab gesehen und gelesen hatte. Es passte auch nicht zu meinem allgemeinen Eindruck, den ich während der Tage in Pjöngjang und Kaesong von dem Land bekommen hatte. Während unserer Busfahrten sah ich viele recht magere Menschen auf den Feldern arbeiten und beobachtete wie Männer mit einer Schaufel den Schotter, den unser Bus beim Fahren zu Seite schleuderte, wieder auf die Straße schippten. Eine anstrengende, monotone und durch die Anlegung einer Teerstraße einfach zu vermeidende Arbeit. Eine Investition in die Infrastruktur ist jedoch scheinbar nicht möglich oder nicht gewollt.

Der Personenkult um die Herrscher ist omnipräsent und ich merke allein schon an den Antworten unserer Reiseleiter, dass es keine Meinungsfreiheit gibt. Alles Dinge, die mir in diesem Land negativ auffallen. So konnte ich es mir nicht erklären, dass ich am Abend der Mass Games eine Begeisterung spürte. Umso mehr bin ich froh darüber, dass wir am nächsten Tag nicht abgereist sind und ich eine weitere Chance bekam, das Bild von Nordkorea für mich wieder geradezurücken.

In Nordkorea ist alles so streng organisiert, dass es für die Machthaber recht einfach ist, Besuchern nur das zu zeigen, was sie sehen sollen. Es wird versucht, ein Bild vom Land zu vermitteln, welches möglichst positiv ist. Diese Bemühungen nehmen durchaus absurde Formen an und es ist klar, dass dies alles eine Illusion ist.

Doch sollte ich nicht vergessen, dass wir in den westlichen Ländern auch tagtäglich mehreren Illusionen unterliegen. Auch hier gibt es etliche Dinge, die der normale Bürger nicht mitbekommen soll und die dem gutgläubigen Verbraucher verborgen bleiben. Nur das wir hier durchaus in der Lage sind, uns über diese Missstände zu informieren und Ungerechtigkeiten bewusst anzugehen. Etwas, das in Nordkorea das eigene und das Leben der gesamten Familie gefährdet.

Schweigen, Schwitzen, Schlafen – Teil 1

Wir sind angekommen, zumindest geographisch, im Kuyunpin Meditation Center. Ich zögere keine Sekunde, aus dem Taxi zu steigen. Dieser Ort und diese Woche sollen ein Höhepunkt unserer fast einjährigen Reise werden. So habe ich es mir gewünscht und ich bin entschlossen, alles dafür zu tun, das es auch so kommt.

Dieses klostereigene Taxi brachte uns zum Mediationszentrum.

Der Aufenthalt in einem Schweigekloster war Micha`s Wunsch. Genauso wie ich bereits vor der Reise wusste, dass ich unbedingt ein oder zwei Tierschutzprojekte unterstützen möchte, wollte Micha unsere Reiseauszeit nutzen, um diese Erfahrung zu machen. Als klar wurde, dass wir durch Myanmar reisen, suchte er im Internet nach Möglichkeiten. Das Land ist voller Klöster, aber nur die wenigsten besitzen eine Homepage. So sind wir froh, dass wir das Kuyunpin Meditation Center im Norden vom Mandalay gefunden haben und hier die Mönche und Nonnen bei ihren letzten acht Tagen des ingesamt dreimonatigen Meditationretreats begleiten dürfen. Wir tauchen also erneut in eine uns völlig fremde Welt hinein.

Doch bevor ihr weiter lest, eine Sache noch: Der Artikel zu unserem Aufenthalt hier im Kloster ist so lang geworden, dass wir ihn nicht in einen einzigen Blogbeitrag packen möchten. Zudem hat dieser Bericht ein neues Format, denn wir haben ihn diesmal zusammen verfasst  – Michas Eindrücke sind in Schwarz geschrieben und meine in Blau. Die Zeit im Kloster haben wir getrennt voneinander verbracht. Wir haben in diesen Tagen unterschiedliche Erlebnisse gehabt und die Zeit auch anders wahrgenommen. Dieses abwechselnde Schreiben ermöglicht es uns den Aufenthalt im Kloster aus unser beider Sichtweisen zu illustrieren. 

Zweieinhalb Stunden dauert die Eskapade von Mandalay. Wir benutzen Straßen, die diese Bezeichnung im fernen Deutschland wohl kaum verdient hätten. Immer wieder sind Ansammlungen von drei bis vier Strohhütten, also kleinste Dörfer zu sehen. Diese Unterkünfte wirken so provisorisch, dass es mir schwerfällt, den Gedanken zu akzeptieren, das dies nicht nur Schutzhütten für Landarbeiter vor Unwetter oder der erbarmungslosen Sonne sind, sondern ein Zuhause, ein dauerhafter Rückzugsort für Familien. 

Laut Google Maps gibt es keine Strasse zum Kloster – zum Glück wissen es die Menschen vor Ort besser.

Ziegen- und Rinderherden, die wie in einem alten Märchen von einem Hirten mit einem langen Stock getrieben und zusammengehalten werden, traben hin und wieder gemächlich an unserem Wagen vorbei. Der Fahrer reduziert die Geschwindigkeit weiter und bleibt stehen, bis das letzte Kalb den Weg an uns vorbei zu seiner tierischen Gemeinschaft gefunden hat. Für mich ist dieses Warten ein kleiner Vorgeschmack auf das, was nun in den kommenden Tagen folgt.

Während der Fahrt versuche ich mich gedanklich auf die nächste Woche vorzubereiten. Wie werde ich mit den strengen Regeln des Klosters zurechtkommen? Das frühe Aufstehen, das viele Meditieren, das Schweigen, das tägliche 18 Stunden-Intervallfasten? Was werden die Tage der Stille mit uns machen? Wir werden zum ersten Mal seit Beginn unserer Reise örtlich getrennt sein. Falls wir uns über den Weg laufen sollten, so haben wir uns auf ein Zeichen geeinigt. Die Hand auf dem Herz bedeutet: Alles ist gut.

Die leitende Nonne Ing begrüßt uns zurückhaltend freundlich, erläutert uns die allgemeinen Verhaltensregeln und stattet uns mit Waschmittel, Toilettenpapier und einer dicken Decke aus. Ein Mönch führt mich schweigend zu dem Bereich im Kloster, wo die Männer wohnen und meditieren. Meine Freude ist groß als ich merke, dass ich statt der erwarteten Unterbringung im Schlafsaal einen eigenen kleinen Bungalow zugewiesen bekomme. Es ist ein Raum mit einem Bett, einer Wäscheleine und einem kleinen Schränkchen. Ich habe auch ein eigenes Bad mit einer Toilette, auf der sogar das Sitzen möglich ist. Es gibt ein Waschbecken und einen Duschschlauch. Ich bin entzückt. 

Zwei Stunden haben wir nun Zeit auch mental anzukommen. Ich packe als Erstes das grosse Moskitonetz aus und versuche es irgendwie über mein Bett zu hängen. Einen Haken an der Decke gibt es nicht, aber ich finde eine kreative Lösung mit Halterungen an den Fenstern und der Wäscheleine. Obwohl diese kleine Installation nicht aufwändig ist, läuft mir der Schweiß nur so vom Körper herunter. Es ist brütend heiss, ich sehne mich nach einem Lüftchen. Als Abkühlung bleibt mir nur die Dusche. Das kalte Wasser tut mir sehr gut. Doch sobald der kühlende Strahl nachlässt, wird mir wieder warm. Das Lufttrocknen, was ich in unseren Breitengraden durchaus geniesse, funktioniert hier aufgrund der hohen Luftfeuchtigkeit nicht. Ich versuche mich mit einem T-Shirt abzutrocknen, aber auch das gelingt mir nur mässig. Ich schwitze schon wieder. Warum ich kein Handtuch nehme? Weil wir nur eins haben und unser Deal war, dass ich das Moskitonetz behalte und Micha dafür unser Handtuch bekommt. 

Am Abend treffen Jana und ich uns mit Ing vor einem kleinen Raum. Ing stellt sich und das Kloster vor. Sie stammt aus Thailand und scheint alterslos zu sein. Ihre großen braunen Augen wirken durch den kahl geschorenen Kopf noch größer. Das weiße Gewand verleiht Ihr sowie ihren Kolleginnen bei aller Einfachheit des Stoffes und der Schnitte eine außerordentliche Noblesse. Ihr Englisch ist hervorragend, so das auch ich ihr gut folgen kann. In den kommenden acht Tagen ist sie unsere Mentorin.

Dieses Bild haben wir am letzten Tag mit einer Nonne und anderen Yogis gemacht.

Ich bin bereits einige Minuten vor 19 Uhr am Treffpunkt vor dem kleinen Tempel und zupfe ungeduldig an meinen neuen Kleidern herum. Ich trage einen langen braunen Rock mit goldenen Strickereien, eine weisse Bluse und eine passende braune Schärpe. Das ist die Kleidung, die alle weiblichen Gäste während ihres Aufenthalts tragen müssen. Die Vorschriften für die Männer sind lockerer. Sie können so ziemlich alles anziehen und haben die Wahl zwischen: dunkler Stoffhose oder Wickelrock, T-Shirt oder Hemd. Micha hat sich für diesen ersten Abend richtig in Schale geschmissen. Ich erkenne seinen Schritt und sehe ihn schon von Weitem. Er trägt sein langärmliges weisses Hemd und den blauen Longyi, den traditionellen Wickelrock der Burmesen, den er sich gestern erst neu gekauft hat.

Im Stoffladen mit den wohl nettesten Verkäuferinnen in ganz Mandalay.

Tag 1: 

Der erste Tag beginnt für uns sanft um 6.00 Uhr. Wir hatten mit Ing abgemacht, dass wir heute auf die Morgenmediationen verzichten und erst zum Frühstück dazukommen.

Das tägliche Anstehen zum Essen und ich mittendrin.

Ich beobachte, wie sich die Mönche entsprechend ihrer internen Rangordnung in eine Reihe stellen. Dahinter bilden die Gäste eine weitere Reihe. Wir sortieren uns nach der Dauer unseres Aufenthaltes. Ich bin ein Kurzbesucher und stehe demnach an letzter Stelle.

Auf einmal beginnt sich die Schlange von Menschen langsam zu bewegen. Wir laufen von der auf einer Anhöhe befindlichen Meditationshalle (Dhamma Hall) der Männer durch einen riesigen Garten über eine langgezogene, teilweise steile Treppe hinunter und kommen erst vor dem Meditationssaal der Nonnen zum Halt. Die Frauen stehen bereits makellos aufgereiht auf dem kleinen Platz, blicken auf den Boden und warten.

Um 5.50 Uhr gehe ich aus meinem Bungalow und versuche die Regeln zu verstehen, in der sich die Frauen aufreihen. Zuerst gehen die Nonnen in einer ordentlich geformten Reihe um die Meditationshalle herum. Sie tragen alle entweder ein braunes, weisses oder rosafarbenes Gewand – je nach ihrem Herkunftsland. Ich geselle mich zu den Frauen, die ebenfalls einen braunen Rock und eine weisse Bluse tragen, denn wir sind die Yogis (so werden hier die Gäste genannt) und wir gehen als letzte Gruppe los. Hinter unserer Halle reihen wir uns auf und warten.

Der Lehrer „Kyunpin Sayādaw“. Bild aus der Webseite des Kyunpin Meditation Center

Sobald der ranghöchste Mönch die Treppe herunterkommt steigen alle Frauen aus ihren Sandalen aus und stellen sich barfuss neben ihre Schuhe. Ich habe nie gefragt, warum wir das machen, aber ich glaube, dies gilt dem Respekt und so tue ich es ihnen nach. Zudem senken nun alle den Kopf. Es gilt Blickkontakt zu vermeiden, denn wir sollen ganz in uns ruhen. Obwohl auch ich den Kopf senke, schauen meine Augen nach oben. Ich suche Micha und lächle, als ich ihn endlich erblicke. Er sieht müde aus. 

Nun stehen wir also da und warten. Es ist extrem heiss und ich bin dankbar für den Sonnenschirm, der mir ein bisschen Schatten spendet. Ich höre die Hähne krähen. Ein paar Hunde bellen irgendwo. Nach ungefähr einer Minute setzt sich unsere Reihe wieder in Bewegung. Was den Ausschlag zum Start gegeben hat, bleibt mir bis zum Schluß ein Rätsel. Langsam gehen die Männer nun zum Speisesaal. Im Kloster ist die Regel „Ladies First“ vielleicht bekannt, wird aber nicht angewendet. Die ranghöchste Nonne wartet bis sie der letzte Mann passiert. Erst danach setzt sie sich und die anderen Frauen in Bewegung.

Nachdem alle Männer an uns vorbeigegangen sind, schlüpfen wir wieder in unsere Schuhe und folgen ihnen ruhig und in der geordneten Reihe. Es geht nur langsam vorwärts. Auf einer großen Tafel im Eingangsbereich des turnhallengroßen Speiseraums lese ich, dass eine Familie aus Vietnam die heutige Spenderin für das Mönchsfrühstück, das Mittagessen und den Saft am Nachmittag ist. Während ich am Eingang wieder meine Schuhe ausziehe ertönt aus den Lautsprechern ein Gebet. Alle kennen den Text und singen laut mit. Ich senke einfach den Kopf und warte. Auf einmal wechselt die sprechende Nonne ins Englische und dankt den Spendern des heutigen Tages. Möge die Familie gesegnet sein von Gesundheit und positiven Gedanken. Nach dieser Andacht dürfen diejenigen, die bereits ihr Essen haben und an ihrem Platz sitzen, anfangen zu essen. Ich stehe allerdings noch recht weit hinten und muss mich weiter gedulden.

Ich reihe mich an den langen Tisch, an dem das Wort „Vegetarisch“ zu lesen steht. Das Angebot ist reichhaltig, von guter Qualität und sehr abwechslungsreich. Es gibt Reis, gedämpftes Gemüse, gebratenen Tofu, Gemüse mit Ei, Tempeh, Algen, scharfe Soßen und Gewürze. Am Ende des Tisches liegt ein wenig Obst. Es gibt auch etwas, das an Kuchen erinnert und ich sehe einzelne Packungen mit löslichem Kaffee. Ja, hier kann ich es wohl aushalten.

Mir wird ein Platz zugewiesen. Ab nun sitze ich in der Nähe des Ausgangs an einem kleinen Holztisch mit vier anderen männlichen Yogis. Jana kommt nach einigen Minuten auch mit einem vollen Tablett in die Halle. Auch ihr wird ein Stuhl gezeigt. Ich freue mich, dass sie nicht weit weg von mir sitzt und wir uns zumindest sehen können.

Von meinem Platz aus kann ich Micha gut sehen.

Nach dem Frühstück nutzen Jana und ich im Kloster-Shop, der gleichzeitig Empfangsbüro ist, die vorerst letzte Gelegenheit, uns auszutauschen. Dann gilt auch für uns, was für alle Nonnen und Mönche dauerhaft die Regel ist: 

SCHWEIGEN

Zufällig sitzt der Klostervorsteher, Kuyinpin Sayadaw, der große Meister persönlich, auch dort und unterhält sich gerade mit einem älteren Mönch. Er bittet uns, Platz zu nehmen. Wir stellen uns vor und sprechen über unsere Erwartungen für die nächsten Tage – wir erzählen von unserer Neugier, der erhofften innerer Ruhe und dem Charme der Gelassenheit. Er nickt und sagt auch etwas, das ich aber nicht verstehe. Unser beider Englisch ist nicht gut genug, um die Defizite des jeweils anderen kompensieren zu können. Also bleibt es bei nonverbaler Kommunikation. Naja – wir sind ja eh in einem Schweigekloster und gehen wieder.

Das vorerst letzte gemeinsame Bild.

Wir haben noch ein paar Minuten Zeit, bis unsere erste Meditation anfängt. Ich suche meine Sitzkissen zusammen, fülle meine Wasserflasche auf und setze mich nochmal auf mein Bett. Neben mir liegt das Prospekt, welches den Tagesablauf aufzeigt: 

  • 3.30 Uhr Wecken
  • 4 Uhr Gehmeditation
  • 5 Uhr Sitzmeditation

6 Uhr Frühstück und individuelle Pause

  • 7.30 Uhr Sitzmeditation
  • 8.30 Uhr Gehmeditation
  • 9.30 Uhr Sitzmeditation

10.30 Uhr Mittag und individuelle Pause (ab 12 Uhr soll nichts mehr gegessen werden)

  • 13 Uhr Sitzmeditation
  • 14 Uhr Gehmeditation
  • 15 Uhr Sitzmeditation

16 Uhr Saft und individuelle Pause

  • 18 Uhr Sitzmeditation
  • 19 Uhr Gehmeditation
  • 20 Uhr Sitzmeditation

21 Uhr Tagesausklang mit gemeinsamem Gesang (Metta Chanting)

ab 21.30 Uhr Ruhezeit (oder Zeit für individuelles Meditieren) 

Ich zähle 11 Stunden für die Meditation und 6 Stunden für den Schlaf. Ich rechne erneut. Wieder komme ich auf 11 Stunden meditieren und 6 Stunden schlafen. Kann das sein? Ich nehme jetzt meine Finger zur Hilfe und zähle nochmal wie ein Kind. Als ob ich es nicht wahrhaben wollte. Natürlich war uns diese Information schon vor unserer Anmeldung bekannt, aber ich habe sie immer geschickt ignoriert. Wird schon. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Ich gehe langsam zur Dhamma Hall. Wird schon – das sage ich mir nun mehrmals in meinen Gedanken. 

Auch in der Meditationshalle bekommen wir alle einen Platz zugewiesen. Die Nonnen und Yogis sitzen durcheinander gemischt in mehrere Reihen gerade hintereinander. Der Anblick der Frauen, jede unter einem farbigen Moskitonetz sitzend ist zwar ein bisschen gewöhnungsbedürftig, aber ich fühle mich unter meinem Netz von Beginn an sehr wohl. Zum einen hält es tatsächlich alle lästigen Insekten ab, zum anderen markiert das Netz meinen individuellen Bereich. Es ist ein kleiner Bereich, gerade so gross wie der Platz, den ich brauche, wenn ich im Schneidersitz sitze. Vielleicht ein Quadratmeter. Sieben Stunden soll ich während unseres Aufenthalts jeden Tag auf diesem Fleckchen Erde verbringen. Wird schon, sage ich mir erneut. 

Ich bin froh für die Abwechslung bei der Gehmeditation. Die Strecke beträgt etwa zehn Meter. Ich schreite sie bevorzugt im Freien ab, da ich hier mehr Luft und Natur spüre. Der Bewegungsablauf erinnert an einen Fischreiher im flachen Wasser, der in Zeitlupe Ausschau nach Fröschen und Fischen hält und durch das flache Wasser watet. Jede Teilbewegung des Beines und Fusses wird in Gedanken seziert und parallel ausgeführt. Damit ist der Fokus auf jede kleine Veränderung gelegt und verhindert das Abschweifen der Gedanken. Im Unterschied zur Sitzmeditation melden sich hier keine Rücken- oder Knieschmerzen. Das macht es alles viel entspannter. Da es sehr warm ist, laufe ich auf meinen Fußsohlen ohne Schuhe. Ich fühle den Boden, seine Wärme, jede Unebenheit und jeden Krümel. Ich sensibilisiere meine Nerven und übe mich so in Achtsamkeit. Dies gelingt mir auf diese Art besser als im Sitzen.

Um 21 Uhr singen alle zusammen einen sogenannten Chanti (ich glaube in der Buddhasprache Pali), der auf mich beruhigend und einschläfernd wirkt. Am Ende des ersten Tages habe ich neun Stunden meditiert – erleuchtet fühle ich mich noch nicht – eher fühlen sich meine Gliedmaßen an, als wenn sie eine ordentliche Massage bräuchten. Ich habe Geduld! 

Wann selbst dem großen Meister die Geduld abhanden kommen kann, ob Jana sich vielleicht doch zuviel zugemutet hat, worüber sich Mönche freuen können, wie wir wahrscheinlich das Leben eines Hundes retteten und was das alles mit einem müden Hahn zu tun hat, erfahrt Ihr in den nächsten Blogartikeln.

Willst du Gott zum Lachen bringen …

…dann erzähl ihm deine Pläne. Gott hat mit uns höchstwahrscheinlich gerade eine super Zeit. „Wenigstens einer, der sich freuen kann“ denke ich, während ich an die Decke starre und darauf hoffe, dass der Strom bald zurückkommt und somit die Klimaanlage wieder anspringt. Wäre ich religiös, würde ich zu Gott beten oder vielleicht sogar mit ihm schimpfen. Es ist unerträglich heiss. Es sind nicht nur die 35 Grad Aussentemperatur und die 90 Prozent Feuchtigkeit in der Luft,  die mir zu schaffen machen, es ist auch das Fieber, mit dem ich mich seit zwei Tagen herumquäle. Micha liegt neben mir im Bett und schaut Videos von Anke Engelke.  Auch er lacht in regelmässigen Abständen. Na immerhin – die Jungs haben Spass. Mir ist überhaupt nicht zum Lachen zumute.

Aber zurück zu unserem Plan: Eigentlich wollten wir heute schon längst in Mandalay sein. Die zweitgrösste Metropole im Zentrum Myanmars hat viele touristische Highlights in der Stadt selbst und in der näheren Umgebung zu bieten. Wir wollten einige Tage dort verbringen und uns alles in Ruhe anschauen. Aber die achtstündige Fahrt, die gestern früh beginnen sollte, konnte ich beim besten Willen nicht antreten. Wir mussten die Tickets für den Bus und das im voraus gebuchte Hotel stornieren und verlängerten stattdessen unser Doppelzimmer bei Kyaw auf unbestimmte Zeit. Zum Glück ist noch Vorsaison, die guten Hostels sind vakant und flexibel für Fälle wie uns. 

Micha schaut besorgt zu mir herüber, hält mir sein Telefon hin, aber ich will jetzt keine lustigen Videos sehen. Er ermutigt mich, zumindest ein paar Schluck Wasser zu trinken. Ich lächle ihn an und richte mich mit Mühe ein bisschen auf. Danke, dass du da bist und dich so liebevoll um mich kümmerst. Ich bin froh, dass es dir gut geht – nicht auszumalen, wie schrecklich es wäre, wenn wir beide zeitgleich ausser Gefecht gesetzt worden wären.

Wie bin ich eigentlich in diese Situation gekommen? Habe ich etwas Falsches gegessen oder getrunken? Wo habe ich mich angesteckt? Ich versuche mich zu erinnern: Vorgestern waren wir den ganzen Tag auf den Beinen und mir ging es gut. Der späte Nachmittag war besonders schön, denn wir haben die Shwedagon-Pagode, den wichtigsten Sakralbau und das religiöse Zentrum Myanmars besucht.

Vor drei Jahren war ich zum ersten Mal hier und war so begeistert von der Atmosphäre, dass ich unbedingt zurück wollte. Damals war ich nur ein paar Tage aus beruflichen Gründen in der Stadt.  An meinem freien Tag wollte ich so viel wie möglich sehen und über die burmesische Kultur erfahren. Ich buchte eine private Tour mit einem lokalen Guide. Die Shwedagon-Pagode war schon damals mein Highlight. Für mich war es vorgestern ein Privileg, diesen Ort noch einmal besuchen zu dürfen. Ganz besonders schön war es, ihn mit Micha an meiner Seite zu erkunden – einen Mann, den ich 2016 noch nicht kannte und den ich heute so sehr liebe. 

Nun war sehr geduldig und freundlich

Am Eingang bot sich uns eine etwa sechzigjährige, gepflegt aussehende Frau als Führerin an. Auf Grund der Bedeutung dieses Ortes und ihrer sympathischen Art nahmen wir ihr Angebot gern an. Bis zum Einbruch der Dunkelheit war Nun, wie wir sie nennen sollten, unsere Begleiterin. Sie schilderte uns im besten Englisch alles rund um diese Sehenswürdigkeit.

Sie erklärte, dass der Hauptstupa aus 60 Tonnen Gold besteht und mit über 4000 Diamanten, Rubinen und Saphiren verziert ist. Der grösste Diamant an der Spitze wiegt 76 Karat. Was das bedeutet, musste ich auch erstmal recherchieren: umgerechnet sind das 15,2 Gramm, was einem Wert von aktuell rund 300.000 Euro entspricht. Kurz vor Sonnenuntergang wies uns Nun auf sein Funkeln, welches nur von einer ganz bestimmten Position aus zu sehen ist, hin. Wir waren berührt und fasziniert zugleich.

Das Abendlicht liess die Pagode in einem ganz besonderen Glanz erstrahlen. Der dunkelblaue Himmel im Hintergrund bot den perfekten farblichen Kontrast zu der goldenen Kulisse. Obwohl hier so viele Menschen waren, herrschte eine außergewöhnlich magische, friedliche und beruhigende Stimmung. Viele liefen, wie wir, einfach um den grossen Stupa herum, andere saßen in kleinen Grüppchen zusammen und unterhielten sich. Junge Mönche und Nonnen schlichen an uns vorbei. Gläubige meditierten oder verteilten Blumengirlanden und Lotusknospen, während andere jede Menge Räucherstäbchen und Kerzen anzündeten.

Umgeben ist der Hauptstupa von 60 kleineren Stupas und vier größeren an den Querseiten, welche die vier Himmelsrichtungen markieren. Dazwischen befinden sich unzählige Andachtshallen, Schreine und Pavillons mit liegenden, sitzenden, ruhenden und sonstigen Buddhas. Überall stehen Glocken, die man mit einem grossen Stück Holz anschlagen kann und sich dabei etwas wünschen darf. Als Micha das erfuhr, ging er schnurstracks auf den nächsten Gong zu und fing an, ihn mehrfach zum Läuten zu bringen. Hatte er so viele Wünsche oder hatte er einfach Spass an der Kombination aus sportlicher Betätigung und Klangerzeugung? 

Ich beobachtete in der Zeit, wie manche Besucher kleine Gläser mit Wasser immer wieder über einige Figuren schütten. Nun erklärte, dass der Wochentag der Geburt für Burmesen besonders wichtig ist. Er bestimmt den Namen des Kindes und dessen Persönlichkeit. Der astrologische Kalender in ihrem Land unterteilt die Woche in 8 Tage, wobei der Mittwoch (Tag, an dem Buddha geboren wurde) aus zwei Teilen besteht. Zu jedem Tag gehört ein Tier, ein Planet und eine Himmelsrichtung. Micha ist ein Sonntagskind, ihm ist der Garuda (ein mystischer Vogelmensch) zugeordnet und als Planet die Sonne. Seine Himmelsrichtung ist der Nordosten. Ich wurde an einem Montag geboren. Mein Tierzeichen ist der Tiger, mein Planet der Mond und meine Himmelsrichtung der Osten. 

Als wir an dem Altar mit dem Tiger vorbeigingen, fordert mich Nun auf, Wasser über die beiden Figuren zu giessen. Üblicherweise gießt man die seinem Alter entsprechende Anzahl von Gläsern Wasser plus einen für eine gute Zukunft über das Tier und den Erleuchteten. Bei mir kamen da einige Gläser zusammen, so dass die Prozedur ein bisschen Geduld von Nun und Micha verlangte. Danach zündete ich eine kleine Kerze an und wünschte mir ebenfalls etwas. Ich machte es kurz und knackig: Gesundheit, Liebe und Zufriedenheit. 

Jetzt muss ich doch ein bisschen lachen: habe ich vielleicht den kleinen Buddha falsch begossen, dass er mich ein paar Stunden nach dem Ritual dermassen abmahnt?

Jedenfalls wäre ich gerne noch länger in der Pagode geblieben, so schön fand ich es dort. Aber wir mussten noch unsere Wäsche abholen, die Rucksäcke packen und ein bisschen Proviant für die geplante Busfahrt am nächsten Tag kaufen. Und so fuhren wir zurück ins Hostel. Im Taxi merkte ich das erste Mal, dass mir irgendwie schlecht wurde. Vielleicht lag es ja am Fahrstil, dachte ich.  Aber auch im Hostel erholte ich mich nicht wieder. Ich wollte schnell den Rucksack packen und früh ins Bett gehen. Vielleicht verlangte mein Körper einfach nach etwas Ruhe. Aber auch im Bett wurde es nicht besser. Im Gegenteil, ich fühlte mich immer mieser und bekam üble Bauchschmerzen. Dann ging alles recht schnell. Irgendetwas war in mir, was mein Körper nicht wollte. Zunächst versuchte er es mit einem akuten Durchfall zu beseitigen. Aber das schien nicht zu genügen. Nachdem ich die Gemeinschaftstoiletten auf zittrigen Beinen verlassen und mich wieder ins Zimmer geschleppt hatte, entschied sich mein Körper für eine Magenentleerung im Turbogang. Jetzt spüre ich die Kehrseite meines konsequenten Verzichts auf die oft grosszügig gereichten Einkaufstüten beim Shoppen. Wo sind die verdammten Plastiktüten, wenn man sie braucht? Mein Körper folgte dem aggressiven Werbeslogan des totalen Ausverkaufs:  „Alles muss raus“. Ich war mittlerweile so geschwächt, dass mir sogar das Sitzen schwer fiel. Eine Pause war mir nicht vergönnt. Ich sollte mich erneut, diesmal auf Michas Arm gestützt, zu den Toiletten hieven. Wie weit doch zehn Meter sein können. Und wie schnell ich meine Energie verloren habe. Jede Bewegung war zu viel für mich. Ich wollte nicht mehr. Mein Herz raste und ich fühlte, wie mein Blutdruck absackte. Mir ging es so schlecht, wie schon lange nicht mehr.

Micha gab mir Wasser und ein Mittel gegen Durchfall. Ich hoffte auf den Verbleib im Körper und die schnelle Entfaltung seiner Wirkung. Irgendwann schlief ich ein, aber die Nacht war nicht erholsam. Ich bekam Fieber, Schüttelfrost und Schweissausbrüche. Immerhin musste ich mich nicht mehr übergeben. Am nächsten Morgen kaufte Micha Salz, Zucker und Orangensaft und mischte mir damit eine Elektrolytlösung, die zwar furchtbar schmeckte, die ich aber dringend brauchte. Den Tag verbrachte ich mit Schlafen, Trinken und Fiebermessen. Zum Glück stieg das Thermometer nicht auf über 39 Grad an – dann wären wir ins Krankenhaus gefahren. Über unsere umfangreiche Reiseapotheke, über die wir hin und wieder fluchen, da sie viel Platz einnimmt, waren wir selten so froh, wie in diesen Tagen. Wir hatten auch fiebersenkende Medikamente dabei und auch der viele Schlaf gestern tat mir gut. 

Heute geht es mir schon etwas besser. Ich glaube, das Gröbste überstanden zu haben und bin dankbar für meinen starken Körper, der den Kampf mit dem viralen oder bakteriellen Eindringling anscheinend gerade für sich entscheidet. Micha lacht laut auf und ermutigt mich, mir dieses eine Ladykracher-Video anzusehen. Danke Anke, jetzt muss ich auch schmunzeln. Nach einer Weile fängt es über uns an zu rattern. Die Klimaanlage ist angegangen, der Strom ist zurück. In meinem erleichternden Seufzer stosse ich ein klitzekleines Dankesgebet an Gott und an Buddha aus. Und ich lache erneut. 

Dehnübungen im Palast

Die Kleidervorschrift für den Besuch des Kumsusan Palast der Sonne ist sehr streng: Männer müssen ein Hemd und eine Krawatte tragen, dunkle Hosen (keine Jeans) und dunkle Schuhe. Ich soll entweder einen zumindest knielangen Rock, ein Kleid oder eine lange Stoffhose anziehen. Die Bluse muss die Schultern bedecken (einfach einen Schal darüber zu legen, reicht nicht aus). Dazu soll ich mir Schuhe aussuchen, die die Zehen bedecken. Turnschuhe – das versteht sich von selbst, sind nicht erwünscht. 

Da unser Rucksack jedoch nicht den Inhalt eines begehbaren Kleiderschranks hervorzaubern kann und wir in Nordkorea nicht einfach so shoppen gehen können, besorgten wir uns die fehlende Krawatte für Micha und ein paar geschlossene Schuhe für mich noch in Peking.

Hübsch verpackt und rausgeputzt wie schon lange nicht mehr, starten wir früh in den Tag. In unserem Bus auf dem Weg zum Mausoleum werden wir von unseren Guides erneut über den Ablauf des Besuchs informiert. Denn nicht nur die Kleidervorschriften sind streng, auch das Verhalten vor Ort ist klar geregelt und darf auf keinen Fall abweichen. Zur Sicherheit bekommen wir die Anweisungen ebenfalls auf Papier ausgehändigt. Aha – da ist er wieder –  einer der Momente, in denen wir uns als Paar besser kennenlernen. Jetzt wissen wir, wer von uns beiden in Zukunft die Beipackzettel von Medikamenten und die Gebrauchsanweisung von neuen elektronischen Geräten lesen wird. Während ich mich pflichtbewusst durch die zwei A4-Seiten Anweisungen auf Englisch durcharbeite, vertraut Micha auf das gesprochene Wort und lässt es dabei bewenden – oder: Am Arsch vorbei führt auch ein Weg.

Der Bus lässt uns an einem grossen Parkplatz raus. Zu unserem Erstaunen heißt es nicht „Balliballi“, sondern „bitte warten“. Alle momentanen Nordkorea-Touristen haben ihren Besichtigungstermin auch heute. Es ist Reisegruppen aus dem Ausland nur Donnerstag- und Sonntagvormittag erlaubt, die Anlage zu besichtigen. Es kommen noch viele weitere Busse an.

Während wir hier so stehen und warten, beobachte ich die anderen Touristen. Ich höre viel Englisch, etwas Deutsch und Russisch durcheinanderreden. Fast alle sind den Anweisungen entsprechend gekleidet. Doch irgendetwas ist anders als sonst. Aber was? Schnell fällt mir auf, dass hier eine Sprache in dem Hintergrundrauschen fehlt. Haben wir sonst überall auch grosse Reisegruppen mit chinesischen Touristen gesehen, so fehlen diese hier komplett. Ich frage unseren Reiseleiter und dieser muss sofort schmunzeln. Ich bin nicht die erste, die nach den Gästen aus dem Nachbarland fragt. Unter vorgehaltener Hand sagt er uns, dass es den Chinesen sehr schwer fällt, sich an die bestehenden strengen Kleider- und Verhaltensvorschriften zu halten und sie deshalb hier von höchster Ebene angeordnet unerwünscht sind.

Nach dem Besuch im Inneren dürfen wir noch schnell ein Foto vor dem Palast machen.

Der ehemalige Amtssitz des „ewigen Präsidenten“ Kim Il Sung ist heute seine Ruhestätte, ebenso die seines Sohnes Kim Jong Il. Es ist das größte bestehende Mausoleum, das einem kommunistischen Machthaber gewidmet ist. Das Fotografieren im Inneren des Gebäudes ist strengstens verboten. Die Artikel-Bilder, die wir verwenden, sind Screenshots aus diesem Video vom staatlichen Fernsehen. Es zeigt den Besuch des amtierenden Machthabers Kim Jong Un und ist schon allein aufgrund der euphorischen Nachrichtensprecherin in den ersten 30 Sekunden sehenswert. Kim III nimmt in der Reportage die gleiche Route wie wir.

Nachdem wir alle vollständig sind, geht es los: Aufstellung in einer 4-er Reihe bis alle untergebracht sind. Wir setzen uns in Bewegung.  Ab den ersten mehr oder weniger synchronen Schritten herrscht Redeverbot. Wir sollen darauf achten, immer auf der gleichen Höhe zu gehen, wie die anderen drei Personen aus unserer 4-er Gruppe – gar nicht so einfach. Wann bin ich das letzte Mal im Gleichschritt gelaufen? War das in meiner Grashüpfergruppe im Kindergarten? Den einheimischen Besuchern, die weit vor uns gehen, fällt diese Art der Fortbewegung sichtlich leichter.

Nach dem Besuch lockern sich die Reihen wieder.

Bald erreichen wir eine Halle, der eigentliche Eingang zu dem Palast. Hier müssen wir nochmals warten und uns neu formieren. Eine 2-er Gruppe ist jetzt zu bilden. Die Koreaner, die eben noch vor uns liefen, warten auch. Ich nutze den Moment, um sie genauer anzuschauen. Von weitem erkannte ich, dass die Frauen fast alle traditionelle Kleider und die Männer alle einen Anzug tragen. Jetzt kann ich ihre Gesichter näher betrachten. Ich sehe Menschen, die gezeichnet sind vom Leben auf dem Land,  von körperlich schwerer Arbeit. Vor allem die Männer sehen dünn, fast dürr aus, ihre großen schwieligen Hände verraten, das ihr Alltag nicht aus Home-Office besteht. Die Haut ist rau und gezeichnet von den vielen Tagen unter freiem Himmel. Seltsam, das gerade dieser Teint in unseren Breitengraden als verwegen, heldenhaft männlich missdeutet wird. Jetzt erkenne ich auch den sehr schlechten Zustand ihrer Anzüge. Waren die Koreaner, die wir im Zentrum von Pjöngjang gesehen haben, ziemlich gut gekleidet, so fällt es hier auf, dass diese Besucher wohl nicht zu den privilegierten Hauptstadtmenschen gehören. Wahrscheinlich schaue ich jetzt in das wahre Gesicht von Nordkorea. Was ist wohl die Lebensgeschichte jedes Einzelnen? 

Mein Gedankengang wird unterbrochen, denn wir müssen weiter. Wir passieren einige Kontrollen, biegen erst links, dann wieder rechts ab. Bald stehen wir auf einem Fahrsteig, wie man ihn vom Flughafen kennt, um große Distanzen schneller zu überbrücken. Links von uns befindet sich eine weiße Mauer mit eingravierten fliegenden Kranichen. Davor wurden Weinreben gepflanzt, alle stehen im gleichen Abstand zueinander. An der Decke sind Lautsprecher angebracht, sie beschallen uns in Dauerschleife mit der getragenen Sinfonie, die zum Tode des „ewigen Präsidenten“ Kim Il Sung extra komponiert wurde. Sie erfüllt ihren Zweck – ich werde traurig. Aber nicht über den Tod des Herrschers, sondern über das offensichtlich schwere Los der Menschen, die hier leben und nun vor mir auf dem Rollfeld stehen.

Es vergeht eine Ewigkeit, bis wir das Ende dieses Flurs erreichen. Dann geht es erneut durch meterhohe Türen, weiter nach unten – wie in eine Gruft, nur besser ausgeleuchtet. Wir scheinen einen neuen Gebäudeabschnitt erreicht zu haben. Wieder müssen wir uns von einer flachen Rolltreppe im Zeitlupentempo chauffieren lassen. Diese Dinger wären in Flughäfen ganz klar ein No Go – viel zu langsam. Hier allerdings sollen die Besucher den Moment bewusst erleben, um die beidseitig hängenden Gemälde bewundern zu können. Sie zeigen den verstorbenen Vater und den Grossvater des aktuellen Alleinherrschers in gewohnt strahlend-visionären Posen. Links Kim I bei der feierlichen Eröffnung einer Fabrik, rechts Kim II bei der Bewunderung frisch geernteter Kartoffeln. Es sind bestimmt 50 Bilder von jedem – alle zeigen ähnliche Motive, alle haben dieselbe Grösse, alle umgibt ein goldener Rahmen. Sie sind im exakt gleichen Abstand zueinander aufgereiht. 

Der Grosspapa ganz entspannt mit Zigarettchen.

Dann stehen wir endlich vor der ersten Besucherhalle. Wie war die Instruktion doch gleich? Richtig, nun ist wieder eine 4-er Gruppe zu bilden. Langsam im Gleichschritt sollen wir vorwärts gehen, bis zu einer weissen Linie auf dem Boden, dort sollen wir stehen bleiben. Wir gleiten durch einen riesigen in goldener Farbe gehaltenen Raum, voller Marmor, perfekt poliert, überall stehen Säulen, es ist sehr hell. Unseren Blick haben wir auf die zwei übergrossen Wachsfiguren von Kim Il Sung und Kim Jong Il gerichtet. Micha läuft in der 4-er Gruppe vor mir. Ich sehe, wie er und sein Nachbar die weisse Grenzlinie marginal übertreten. Mein Herz reagiert sofort mit erhöhtem Pulsschlag – ich habe Angst, dass dieser Fauxpas von den Soldaten registriert und abgemahnt wird. Zum Glück reagiert der andere Nachbar und weisst die beiden Delinquenten flüsternd darauf hin. Die Soldaten haben wohl nichts gemerkt. Keine Ahnung, welche Auswirkungen so ein Grenzübertritt haben könnte – aber ich finde, mein Mann sollten es nicht austesten.

Vor den Wachsstatuen müssen wir uns das erste Mal verneigen. Eine 90-Grad Verbeugung wurde uns empfohlen. Die Hände sollen dabei entweder vor dem Körper gefaltet werden oder gerade an der Hüfte anliegen. Sie hinter dem Rücken zu halten, gilt als Beleidigung der Wachsfiguren. Nach der langsam ausgeführten Gruppenverbeugung geht es aus dem Raum heraus. Mein Herz hat sich mittlerweile auch wieder beruhigt. Wir stehen im Vorraum des Mausoleums von Kim Il Sung. Der Guide erinnert uns an den Ablauf der nächsten zwei Minuten:  Als 4-er Gruppe sollen wir vor den Sarg treten, vor den Füssen des Verstorbenen stehen bleiben (auch hier gibt es kleine Punkte am Boden, die dem Besucher den genauen Platz für die Verbeugung anzeigen), innehalten und uns dann langsam verneigen. Das gemeinsame Verbeugen fällt meiner Gruppe erstaunlich leicht. Obwohl wir nicht verbal miteinander kommunizieren und nebeneinander stehen, spüren wir als Gemeinschaft, wann wir mit dem Oberkörper nach unten gehen und wann wir uns gemeinsam wieder aufrichten. Dann geht es im Uhrzeigersinn weiter um den Sarg herum. Wir bleiben vor der linken Seite stehen und verneigen uns erneut. Jetzt müssen wir uns konzentrieren, denn nun kommt eine Ausnahme: am Kopfende dürfen wir nicht pausieren und uns auf keinen Fall vor dem Haupt des Aufgebetteten verneigen (ihr ahnt es: es gilt als Beleidigung). Also schleichen wir diszipliniert weiter zur rechten Seite, stoppen und genau: verneigen uns ein drittes Mal. Das Verbeugen vor dem Diktator ist übrigens Pflicht. Wir wussten im Vorfeld, dass dies hier von uns verlangt wird. Diejenigen, die sich nicht vor den Verstorbenen verneigen möchten, hätten heute Morgen im Hotel bleiben können. Aus unserer Gruppe sind alle mitgekommen. Ich betrachte die Verbeugung als Dehnübung für meine hintere Oberschenkelmuskulatur. 

Von dem Parteiführer selbst sehe ich kaum etwas. Ich bin so auf das korrekte Ausführen des Rituals konzentriert, dass ich keine Details des Toten wahrnehme. Zudem ist das Licht in diesem Raum sehr gedämmt. Mir fällt jedoch auf, dass in jeder Ecke ein Soldat in voller Montur stramm steht.

Wir verlassen den Bereich und gehen nun durch den Museumsteil dieser Etage. Allerhand Ehrendoktortitel von Kim Il Sung (Kim I) und Gastgeschenke befreundeter Staaten werden zur Schau gestellt. Dann treten wir in eine riesige Ausstellungshalle und bekommen zunächst die konkrete Reiseroute von diversen Staatsbesuchen erklärt. Die Limousinen, der private Eisenbahnwaggon und sogar die Yacht von Kim I sind hier ausgestellt. Ein Dienstfahrrad suche ich vergebens.

Danach gehen wir als Gruppe geschlossen eine Ebene höher zum Mausoleum von Kim Jong Il (Kim II ). Noch einmal treten wir vor einen offenen Sarg, machen unsere Dehnübungen an den drei Seiten und werden im Anschluss zu den Auszeichnungen, Medaillen und Dienstfahrzeugen des „Ewigen Generalsekretärs“ geführt. 

Das grosse Gebäude, die exakt vorgegebene Prozedur und die hier herrschende angespannte Stimmung machen den Besuch anstrengend für mich. Ich bin froh, dass ich nun wieder auf dem Fahrsteig stehe und mich von diesem langsam zurückfahren lasse. Das Band auf der anderen Seite befördert die koreanischen Besucher, die ihren Rundgang noch vor sich haben. Ich betrachte sie, schaue sie direkt an, doch mein Blick wird nicht erwidert. Fast alle starren nach vorn oder nach unten. Ich sehe sie, sehe jeden Menschen, der sich langsam an mir vorbei bewegt. Jeder Einzelne ist wichtig, auch wenn die Rhetorik in diesem Land nur das Kollektiv kennt. Wieder frage ich mich bei Jedem, was wohl seine ganz persönliche Geschichte ist. Ich werde sie nie erfahren. Mit meinem Blick versuche ich dem Menschen, der gerade auf meiner Augenhöhe ist, Zuspruch zu schenken. Und in meiner Vorstellung verbeuge ich mich vor ihm. Diese gedankliche Verneigung meine ich ernst. Diese Verbeugung ist voller Aufrichtigkeit.  

Schwer zu beschreiben

Nach über fünf Flugstunden landen wir endlich in Yangon, der ehemaligen Hauptstadt von Myanmar. Endlich raus aus diesem atemlosen und mich so erschöpfenden Shanghai.

Mitternacht ist schon lange vorbei. Ein Taxi bringt uns in nun wieder feuchtwarmer Luft zu unserem Hostel. Nach rund dreißig Minuten bleiben wir in einer dunklen und staubigen Straße stehen. Die Adresse stimmt. Doch wo ist unsere Unterkunft? Der Eingang ist weder auf den ersten noch den zweiten Blick zu erkennen. Wir stehen eine Weile ratlos auf der Strasse und versuchen uns zu orientieren. 

Dann sehen wir auf einem der heruntergekommenen Balkone ein kleines Schild mit Leuchtreklame  – tatsächlich, der Name unseres Hostels blinkt uns hier entgegen. Im Eingang zu dem Gebäude, gleich auf dem ersten Treppenabsatz liegt ein vom Alter her nur schwer zu schätzender Mann auf einem heruntergekommenen Liegestuhl, schläft und schnarcht. Er trägt ein Tuch um seinen Unterleib und ein schmutziges Baumwollhemd. Er sieht etwas mager aber friedlich aus. Hat er kein Zuhause, dass er hier im Hausflur ruhen muß oder verschläft er gerade seinen Dienst als Security-Mitarbeiter? Ich weiß nicht, welche Antwort mir lieber wäre.

Mit unseren Rucksäcken, die sich gerade so gar nicht nach leichtem Gepäck anfühlen, treten wir in einen zwei Quadratmeter großen Hausflur. Smartphones von heute ersetzen das Telefon, die Musikanlage, das Wörterbuch, die Landkarte und neben anderen tausend nützlichen Dingen auch die Taschenlampe. Genau diese Funktion nutze ich gerade. Wir passieren den Schlummernden auf den leisesten Sohlen, die uns in diesem Licht möglich sind. Wir müssen in den zweiten Stock. Die kleine Treppe ist voller Löcher, hat kein Geländer, dafür umso mehr herunterhängende Stromkabel. Höchste Konzentration ist gefragt – und das Nachts um drei. Ich erwische mich dabei, wie ich leise fluche. Dann betreten wir nach einem vorsichtigen Klopfen den Eingangsbereich. Kyaw begrüßt uns euphorisch. Wie kann jemand um diese Uhrzeit noch ein so offenes und freundliches Gesicht haben? Meine Stimmung bessert sich schlagartig, denn ich fühle mich sofort willkommen. Mit Kyaw waren wir bereits vor unserer Anreise im Kontakt. Wir hatten ihn vor unserer frühen Ankunft gewarnt. Und so hatte er, der rund um die Uhr für seine Gäste da ist, seine Schlafliege im Frühstücksraum zusammengeklappt, um uns zu empfangen. Sein Leben scheint nur aus diesem Job zu bestehen und trotzdem strahlt er diese Güte und Zufriedenheit aus, die mir oft in den kommenden Wochen begegnen wird.

Das frühere Burma oder Birma ist ein zutiefst religiös geprägtes Land. Mir fällt der Begriff Mönchsrepublik ein, wenn ich rückblickend an unsere Zeit dort denke. Mönche, Tempel, Klöster, Zeremonien, buddhistische Statuen und eine in der Gesellschaft gelebte Spiritualität laden mich freundlich ein, mehr über die hier praktizierte Religion erfahren zu wollen. Birmanische Buddhisten von heute schätzen die Meditation, geben reichlich Almosen und sehen ihr Los als Konsequenz einer Sünde oder eines Verdienstes in einem früheren Leben. Das gesellschaftliche Ideal für die meisten Bürger wird allgemein bahmasan chin (zu Deutsch; „Birmanisch sein“) genannt. Zu dessen Charakteristika zählen Respekt vor Älteren, Kenntnis der buddhistischen Schrift und taktvolles Verhalten gegenüber dem anderen Geschlecht. Das Wichtigste jedoch ist: Das Stille, Subtile und Indirekte hat immer Vorrang vor dem Lauten, Offensichtlichen und Direkten. Als ich das gelesen hatte, wußte ich, das ich dieses Land und seine Menschen als ebenso exotisch wie liebenswert empfinden würde. Mein erster Eindruck wird sich bestätigen. 

Den nächsten Tag gehen wir ruhig an. Wir wollen erstmal richtig ankommen und uns orientieren. Die Strassen von Yangon sind voller Menschen, überall sehen wir sporadisch aufgebaute Marktstände, Erwachsene sitzen auf kleinen Plastikhockern und unterhalten sich, Kinder spielen miteinander, Hunde suchen nach etwas Essbarem. Die Fassaden der Häuser sehen alle sehr, nun ja, historisch aus. Viele wurden zur englischen Kolonialzeit im 19. Jahrhundert gebaut und seit dem wohl nicht mehr restauriert. Auch dies ist ein krasser Unterschied zu China. Überhaupt kommt es mir vor, als wären wir nicht im Nachbarland, sondern in einer komplett anderen Welt. Ich fühle mich trotz der vielen Menschen, trotz des Lärms der Strassen und trotz des Schmutzes überraschend wohl hier.

Sind es die vielen Mönche, die so friedlich an uns vorbeilaufen? Sind es die zahlreichen goldig schimmernden Pagoden, die zwischen den Häusern hervorlugen und eine beruhigende Stabilität ausstrahlen? Ich weiss es nicht. Aber ich verstehe Jana, die vor ein paar Jahren schon einmal beruflich für ein paar Tage hier war und unbedingt zurückwollte. Sie berichtete von einer besonderen Atmosphäre und Stimmung im Land – konnte es aber nicht genauer beschreiben. 

Wir entdecken einen Beauty-Salon. Nach all den Laufeinheiten in China und der kurzen ersten Nacht in Myanmar tut uns die traditionelle Massage mehr als gut. Kaum sind die Muskeln versorgt, fängt auch schon der Bauch an zu knurren. Der Besitzer eines der vielen indischen Restaurants winkt uns freudig herein und überreicht uns stolz die Speisekarte auf Englisch. Schnell merke ich, dass es zwar lateinische Buchstaben sind, die ich da lese, ich aber trotzdem kaum etwas verstehe. Sie haben die Gerichte nicht erklärt und so überlegen wir, welche der vielen Speisen, die unter der Kategorie „Veggie“ stehen, wir bestellen sollen. Dann spricht mich ein irgendwie anders als die anderen Gäste aussehender, nicht mehr ganz junger Mann an. Er ist auf eine Art freundlich, die es mir unmöglich macht, mich nicht darauf einzulassen. Er fragt, ob er helfen dürfe. Jana und ich schauen uns an: ja, sehr gerne! Zur Freude des Restaurantbesitzers erklärt er uns die Speisekarte. Dabei wirkt er so engagiert, dass er mir wie ein Kandidat im Bewerbungsgespräch vorkommt. Neugierig, aber nicht aufdringlich fragt er nach unserer Herkunft und welche Beweggründe uns hierher verschlagen haben. Dankbar für seine Hilfe lassen wir uns trotz unseres Hungergefühls auf ein längeres Gespräch mit ihm ein. Von seinem Tisch grüßt eine ältere europäisch aussehende Dame zu uns herüber. Sie wird uns später als Sally aus Australien vorgestellt und bringt genau den Job zu Ende, den unser neuer Bekannter Melvin für uns gerade übernommen hat. Sie arbeitet an einer neuen englischen Speisekarte, die die angebotenen Speisen touristenfreundlich umschreibt. Wir erfahren, das er Brite mit philippinischen Wurzeln eines Elternteils ist und vor einigen Jahren in London seine burmesische Frau kennengelernt und geheiratet hat. Inzwischen ist er Vater eines kleinen Sohnes und mit seiner Frau in ihre Heimat umgezogen. Dann zieht er sich zu seiner Tischnachbarin zurück, spricht mit dem Gastwirt und wir genießen unseren späten Lunch. 

Ein Selfie mit Melvin für seinen Facebook-Account 

Noch bevor wir den Nachtisch bestellen können, hat uns Melvin zu diesem Essen und zu seiner am nächsten Tag stattfinden Party anlässlich seines vierzigsten Geburtstages eingeladen. Da sagen wir natürlich nicht nein. Was für ein toller Start in Myanmar!

Das Fest findet auf einem Ausflugsboot zeitgleich mit einem Studienabschlußtreffen sowie einer Firmenfeier statt. Als Geschenk überreichen wir ihm einen Gutschein für eine Massage, von dem Spa welches wir gestern besucht haben. Der laue Abend auf dem Ausflugsdampfer versprüht eine lässig-wohlige Laune. Beim Spaziergang über das Schiff werden wir von Burmesen mehrfach angesprochen und um Fotos gebeten. Neben all den zierlichen Menschen fühlen wir uns wie zwei grosse nordische Walrosse inmitten einer Herde flinker Zwergpinguine. 

Auf unserer Reise durch Myanmar werden wir immer wieder freundlich interessiert von den Menschen beobachtet und von den Mutigeren auch angesprochen. Die meisten wollen einfach nur ein Foto mit uns. Wir sagen stets zu und bitten im Gegenzug ebenso um eines mit ihnen. Wahrscheinlich sind wir mit unserer Bitte eher eine Ausnahme unter den Touristen, denn wir schauen dann meistens in verwunderte Augen. Aber auch uns wird unser Fotowunsch nie verwehrt. Überhaupt sind die Burmesen ein überaus freundliches Volk. Wir verständigen uns mit Hilfe von ein paar Wörtern aus dem Reiseführer und per Mimik und Gestik – ein Lächeln wird stets mit einem Lächeln erwidert. Die Burmesen wirken auf uns geerdet, dankbar und glücklich, mit dem was sie haben. Dabei haben die meisten von ihnen nicht viel an materiellem Besitz. Ein Drittel aller Haushalte lebt nach Angaben der Weltbank in Armut.

Auf einem späteren Ausflug ins Landesinnere schüttet es auf einmal wie aus Kübeln. Die Straßen verwandelten sich innerhalb von Minuten zu Flüssen. Von den Hängen spült das Wasser allerhand Schlamm und Gestein herunter. Jana und ich sehen aus dem Fenster und fangen an zu verstehen. So ein Regen würde bei uns höchstens dazu führen, dass Menschen ihre Verabredungen auf später verschieben – schließlich will niemand nass werden. Das Wasser würde in die Gullys abfließen und selbst wenn es in einen Hauskeller eindringt, so würde die Versicherung in den meisten Fällen für den entstandenen Schaden aufkommen. Hier allerdings kann die Mischung aus Wasser und Geröll durchaus die per Hand gebauten Bretterhütten wegspülen und sogar das Leben der Bewohner gefährden. Ich kann nur mutmaßen, aber ich glaube, es ist genau diese reale Bedrohung des Ist-Zustands, die dazu führt, dass die Menschen hier so eine Ruhe ausstrahlen. Das klingt vielleicht auf den ersten Blick paradox. Aber ist es nicht so, dass wir in der westlichen Welt kaum lebensbedrohlichen Gefahren ausgesetzt sind? Wir vergessen dankbar zu sein, weil wir nicht wissen wofür. Dabei ist es so einfach. Ich möchte mit den Menschen hier nicht tauschen, aber ich wünsche mir, dass wir zufriedener sind, mit all dem was wir haben.

Und so sind es nicht nur die vielen stillen Mönche, die achtsam durch die Strassen ziehen oder die unzähligen goldig schimmernden Pagoden, die diese ruhige Atmosphäre kreieren. Es ist jeder einzelne Mensch hier, der trotz aller Schwierigkeiten eine tiefe Zufriedenheit ausstrahlt und dadurch eine ganz besonders positive Energie entstehen lässt. Es ist, wie Jana gesagt hat, eine besondere Atmosphäre und Stimmung im Land – schwer zu beschreiben. 

Inseln der Ruhe

Unser Zuhause ist der Zug – zumindest für einen halben Tag oder besser: eine Nacht – diesmal von Xi`an nach Hangzhou. Das hat den Vorteil, die großen Distanzen zwischen den Städten in China ohne gähnende Langeweile überwinden zu können und auch die Hotelkosten für die Übernachtung einzusparen. Inzwischen kennen wir uns aus mit den verschiedenen Komfortvarianten. Deshalb buchen wir auch diesmal wieder das 4`er Abteil. Der Nachtschlaf ist nicht wirklich tief, verkürzt jedoch gefühlt die Fahrt – hingelegt und eingedöst. Wir sind mittlerweile ziemlich robust und können fast überall schlafen. Das hilft auf Reisen, da nicht immer klar ist, wie sie verläuft und wo der Tag endet. Es ist schlau, den Akku dann aufzuladen, wenn sich eine Gelegenheit bietet. Wählerisch darf man allerdings nicht sein. Weder die ständig neuen Abteilnachbarn mit ihren allzu menschlichen Lebensgeräuschen- und düften, noch der Lärm vor der Kabine oder das unrythmische Ruckeln und Schuckeln machen uns inzwischen etwas aus. Diese Genügsamkeit ist definitiv eine wertvolle Gabe, die sich erst so richtig durch unsere Reise entfaltet hat. 

Am folgenden Tag erreichen wir gegen Mittag unser Hostel im Zentrum. Mit rund neun Millionen Einwohnern in der Metropolregion und fünf Millionen im Citygebiet liegt die nur etwa 180 Kilometer von Shanghai entfernte Stadt auf Platz neun der größten Metropolen Chinas. Damit ist Hangzhou mit Abstand größer als jeder Ort in Deutschland. Wuhan, mit seinen 7,5 Millionen Einwohnern, kennt ja inzwischen wohl jeder. Aber wer hatte schon mal was von Hangzhou gehört? Ich gebe zu, ich kannte es bis zu dieser Reise auch nicht. Dabei lassen sich erste Spuren menschlicher Siedlungen an dieser Stelle bis zu 4.700 Jahre zurückverfolgen. Laut Wikipedia soll Marco Polo Hangzhou als „schönste und großartigste Stadt der Welt“ bezeichnet haben. Zu seiner Zeit, im 13. Jahrhundert, hatte die Siedlung den weltweit größten Hafen. Heute ist Hangzhou keine Hafenstadt mehr, denn im Laufe der Jahrhunderte verlandete die Bucht. Es wird angenommen, dass die Stadt zu Marco Polos Zeiten eine Bevölkerung von bis zu einer Million Menschen gehabt haben könnte. Damit wäre sie vor Bagdad die größte mittelalterliche Stadt der Welt gewesen. Womit wieder bewiesen wäre, dass das Reisen nicht dümmer macht.

Wir schauen uns etwas in der Altstadt um, merken jedoch schnell, dass diese eine Neustadt mit auf „alt“ getrimmten Fassaden ist. Auch hier wurde vieles ordentlich durchsaniert. Neu, sauber und westlich modern gestaltet scheint das Credo des verantwortlichen Stadtplaners gewesen zu sein oder der Auftrag der Provinzregierung. Die historischen Elemente sind meist so künstlich, das sie so originell wie weiße Tennissocken wirken. Es gibt mehrere breit angelegte Fußgängerzonen mit unzähligen Shops und verlockenden Essenständen. Junge Menschen tummeln sich auf den Straßen. Stolz tragen sie ihre frisch erstandenen Einkaufstüten und beißen appetitvoll in die Fleischspiesschen, die überall angeboten werden. Es herrscht engagiert-lustvolles Geldausgaben im Freiluft – Shoppingpark.

Um wieder ein bisschen Distanz zu dem Trubel zu gewinnen, besuchen wir abends eine nahe gelegene Pagode. Sie dient heute als Teehaus, Museum und Restaurant und zieht auch deshalb einige Ausflugsgäste an. Mit der Einkaufsmeile kann sie zum Glück nicht mithalten. Der Blick auf die untergehende Abendsonne über den Hügeln des Sees verspricht einen entspannten Tagesausklang.

Da uns das Tandemfahren auf der Stadtmauer in Xi´an soviel Freude bereitete, nehmen wir das Angebot unseres Hostels, dort ebenfalls Fahrräder auszuleihen, dankend an. Unser Ziel ist der Westsee, ebenfalls Unesco-Weltkulturerbe und allein in China über 30 mal nachgeahmt. Er ist jeweils etwa drei Kilometer lang und breit. Der Legende zufolge fiel eine Perle, um die sich ein Phönix und ein Drache zankten, auf die Erde und bildete diesen See. Die Zweiräder bieten uns eine sportliche Gelegenheit, ihn und die Landschaft darum zu erkunden. Der junge Mann hinter dem Hosteltresen gibt zu Bedenken, dass es nicht möglich sei, mit den Fahrrädern direkt am Wasser entlang zu fahren. Da unsere Offlinekarte auf dem Telefon mehrere kleine Wege anzeigt, versuchen wir es trotzdem. Ich stelle mir vor, wie es war als ich um die Aussen-Alster in Hamburg joggte – wie sehr ich die Nähe zum Wasser und wie oft ich die sich darin spiegelnde Sonne genoss. Warum sollten wir also auf der Straße fahren, wenn es doch all diese kleinen Wege direkt am See gibt?

Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten und lautet: weil es verboten ist. Überall stehen Schilder mit durchgestrichenen Fahrrädern. Die gut ausgebauten ufernahen Pfade sind nur für Fussgänger vorgesehen. Die gedruckten kleinen und großen Hinweise allein würden uns nicht vom Benutzen der Wege abhalten, aber es stehen wirklich fast überall Aufpasser, die uns schnell und unmissverständlich anbellen, sobald wir auf unseren klapprigen Drahteseln in die Nähe des Ufers kommen. Ein bisschen genervt drehen wir um, und fahren eine ganze Weile auf der vielspurigen Straße abseits vom Wasser. Ja, sie umrundet auch den See, aber wir sind zu weit entfernt, um in den Genuß seines Anblicks zu kommen. Parallel oder hinter anderen Autos zu strampeln bereitet wenig Vergnügen.

Das er auf der Strasse fahren soll, ist klar. Aber wir sind doch gemütliche Touristen!

Immer wieder schauen wir nach Möglichkeiten, uns dem Wasser und der Natur zu nähern und dem lärmenden Verkehrsgewusel zu entfliehen. Wir biegen immer wieder ab und schauen, ob Schleichpfade nicht doch noch für Fahrräder erlaubt sind. Irgendwann entdecken wir eine unbeaufsichtigte Einfahrt und nutzen sofort die Chance.

Ätschi – Bätschi! Wir haben es geschafft! Wir sind direkt am See und genießen von nun an diese herrliche Parklandschaft.

Die Bewegung, dass viele Grün im und am Wasser sowie die sorgfältig errichteten Pfade lassen ein Gefühl von Leichtigkeit und Freiheit aufkommen. Etwas, das ich in anderen Gegenden in diesem großen weiten Land so oft vermisst habe. Wir machen immer wieder Pausen, gehen ein Stück zu Fuß und geniessen den Sonnenuntergang.

An einer Stelle lassen Drachenflieger ihre Papiervögel in der hohen Luft tanzen. Wären nicht die vielen uniformierten Ordnungswächter an (fast) allen Zu- und Abgängen rund um den See sowie die überall gut sichtbar angebrachten Überwachungskameras, könnte ich es eine Idylle nennen. 

Der Bahnhof von Hangzhou mutet im Gegensatz zur „Altstadt“ wie ein moderner Flughafen an. Er ist riesig, hell und sehr sauber. Alles ist gut organisiert. Gewartet wird in der Bahnhofshalle. Wir dürfen erst nach Aufruf kurz vor planmäßiger Abfahrt durch das Gate auf den Bahnsteig. Dort steht überall mehr oder weniger freundliches Bahnhofspersonal und komplimentiert uns in die richtigen Wagenabteile. Vor dem „Boarding“ zeigen wir unsere Tickets, direkt beim Einstieg wird erneut kontrolliert. Keine Chance für Schwarzfahrer.

Was wir nicht wissen ist, dass wir zwar ein Ticket haben, aber keinen Sitzplatz. Das gibt es also auch in China. Für uns bedeutet dies, dass wir die Fahrtzeit im modernsten Hochgeschwindigkeitszug des Landes im Gang verbringen müssen.

Zum Glück dauert die Fahrt in die grösste Stadt Chinas und sechstgrößte Stadt der Welt, Shanghai, nur etwa eine Stunde. Es ist die letzte Station unserer Reise durch dieses riesige Land. Wir nehmen uns zwei Tage für die Megametropole – mehr wollen wir uns nicht zumuten.

Einer Empfehlung folgend, brechen wir am nächsten Morgen auf, um den buddhistischen Jade-Tempel zu besuchen – ein Ort der Ruhe und Spiritualität, wie wir hoffen. Unsere Erwartungen werden nicht enttäuscht. In einem der vielen Tempel gibt es die Möglichkeit, sich auf, ähnlich dem Backpapier, dünnen Papyrusrollen kalligraphisch zu üben. Tinte und Feder können gegen eine kleine Spende ausgeliehen werden.

Auf dem feinen Pergament sind Teile des Dharma (Weisheiten des Buddha) zart wie Wasserzeichen abgedruckt. Die Herausforderung besteht im schwungvoll ästhetischen und doch exakten Nachschreiben. Dabei handelt es sich um eine ebenso interessante wie entspannende Übung der chinesischen Schriftzeichen und des kunstvollen Aufzeichnens. Ich fange vorsichtig an. Schon nach kurzer Zeit stellt sich dieses kontemplative Hochgefühl einer monotonen, jedoch ziemlich beruhigenden Tätigkeit ein. Ich erinnere mich an früher, als ich im Garten den Rasen und die Pflanzen wässerte oder im Kindesalter tagelang Puzzlespiele mit Landschaften oder Städtebildern zusammensetzte. Dabei hatte ich ähnliche Empfindungen.

Eine der vielen Tempelkatzen gesellt sich erst zu Jana, dann zu mir. Nicht, dass sie sonderlich an uns oder unserer Tätigkeit interessiert wäre. Nein – der Tisch an dem wir gemeinsam sitzen ist gross genug und vielleicht ein Lieblingsplätzchen dieser dem Wesen des Buddhismus scheinbar nahe stehenden Tierart.

Wir verbringen den ganzen Tag an diesem Platz der Ruhe und essen zwischendurch im vegetarischen Tempelrestaurant. 

Am Abend machen Jana und ich uns auf zum weltberühmten „Bund“ in Shanghai. Es ist die eineinhalb Kilometer lange Uferpromenade entlang des Huangpuflusses auf der sich, wie kann es auch anders sein, hunderttausende Besucher tagtäglich wimmeln. Das Wort „Bund“ leitet sich von einem anglo-indischen Wort für eine Böschung entlang von schlammigem Wasser ab. Zahlreiche hier stehende Häuser sind historische Kolonialbauten im europäischen Stil, in denen heute Banken, Konsulate und Unternehmen untergebracht sind.

Auf der gegenüberliegenden Flussseite sind die vielen Wolkenkratzer und architektonischen Höchstleistungen, die jetzt zur Dämmerung Kulisse einer tagtäglichen Megashow werden, zu bewundern. Der Trubel und die Fülle an Menschen bilden erneut ein Kontrastprogramm zum Nachmittag. Wie bunte Lutscher aussehende Bürotürme leuchten farbenfroh durcheinander und wirken wie Las Vegas am Meer. Es blinkt unentwegt, so dass wir nicht wissen, wo wir als erstes hingucken sollen. Laserlichter kreisen am Himmel, Musik dröhnt aus den Lautsprechern.

So ein Entertainment kennen wir von unseren Grossstädten in Europa nur zu speziellen Anlässen. Hier in China ist das Besondere das Alltägliche – eine nicht enden wollende Party. Wir setzen uns etwas erschöpft vom Geräusch – und Farbenlärm auf eine freie Bank und fangen an zu philosophieren, fragen uns, welches Programm sie eigentlich zu den besonderen Tagen auffahren. Wie lange können und wollen Sie sich noch selbst übertrumpfen? Gibt es denn keine Grenze bei diesem Dauerspektakel? Unendlicher Spaß in einer endlichen Welt? Irgendwann ist der höchste Wolkenkratzer gebaut und die spektakulärste Show gespielt. Irgendwann ist vielleicht das Alltägliche auch hier wieder das Besondere.

Übrigens: die sich in der Tempelanlage befindlichen zwei lebensgrossen Buddhastatuen aus Jade stammen aus Myanmar, der nächsten Etappe auf unserer Entdeckungstour durch Asien und zu uns selbst. Obwohl beide Länder eine gemeinsame Grenze haben, kann ich mir kaum eine gegensätzlichere Grundstimmung in diesen Gesellschaften vorstellen. Ich bin dankbar für meine Begegnungen und Erlebnisse im Reich der Mitte. Keine Ahnung, ob ich hierher noch einmal zurückkehren werde. Heute sage ich eher nein, das muss ich nicht nochmal haben. Das wahres Glück und innere Zufriedenheit wenig mit technischem Fortschritt und materiellen Überfluss zu tun haben, wird auf unserer nächsten Station wieder deutlich.

Bye Bye China. Wir sind noch mit regulärem Linienflug rausgekommen. 🙂