Die Erlaubnis, die ich mir nun selbst gebe, ist eine Wohltat für mich. Einige Meditationen lasse ich ausfallen, um etwas Schlaf nachzuholen, um zu lesen oder mich ein bisschen zu dehnen. Nicht nur am Schreibtisch zieht es nach einer Weile im Rücken, gleiches kann auch nach vielen Stunden Meditation passieren. Dabei gestatte ich mir, die Gedanken, die kommen, auch zu verfolgen. Und wenn nach einer gewissen Zeit der Schlafsand wie ein Schmetterling angeweht kommt, dann nehme ich ihn wahr, versuche nicht ihn zu verscheuchen, sondern lade ihn sogar ein, sich auf mir niederzulassen. Ich verändere dann meine Position – vom Schneidersitz in eine Hockposition, mit angewinkelten Beinen, die Arme um die Beine geschlungen und den Kopf auf den Knien abstützend. Das ist eine bequeme und stabile Haltung, für ein kleines Nickerchen. Naja, jedenfalls war sie es bis heute.
Bereits nach wenigen Minuten verliere ich die sicher geglaubte Stabilität und neige mich nach rechts. Normalerweise wache ich in dem Moment des Kippens auf und kann mich wieder leise und unbemerkt aufrichten. Doch heute ist mein Schlaf bereits zu fest, ich träume schon von einem Fall. Ich falle ins Bodenlose. In Wirklichkeit war der Boden sehr nah, zu nah, als dass ich mich noch hätte sanft wieder aufrichten können. Instinktiv stütze ich mich mit der rechten Hand auf den Boden. Rumms! Das war ein lauter Schlag. Ich bin sofort wach und fange an zu lachen. Eine wirklich komische Situation – alle anderen Yogis und Nonnen waren tief versunken in ihrer Meditation und werden plötzlich aus ihrer Tiefenentspannung abrupt herausgerissen. Meine direkte Nachbarin schaut mich mit grossen, fragenden Augen an und deutet mit ihrer Gestik darauf hin, dass ihr Herz nun rast. Oh je, das tut mir leid. Das Ganze ist mir unangenehm und so versuche ich mich schnell wieder im Schneidersitz auf die Meditation zu konzentrieren. Aber es gelingt mir nicht. Ich kann mich nicht mehr auf mein Atmen konzentrieren. Immer wieder muss ich an die Situation denken und jedesmal kichere ich leise. Kurz darauf verlasse ich die Halle frühzeitig. Es ist fast Essenzeit. Ich freue ich mich auf den Nachmittag – denn diese Meditationen werde ich schwänzen, um: genau – etwas Schlaf nachzuholen. Aber dann richtig, im Bett.
In der Mittagspause legt mir Ing einen Zettel auf den Tisch. Darauf steht, dass es nach der Pause ab 13.00 Uhr eine Special – Session gibt. Das Ganze findet in einem kleinen freundlich-hellen Raum in der zweiten Ebene der Frauen-Meditationshalle statt. Als ich eintrete, sehe ich Jana und das ältere Yogi-Pärchen aus Israel bereits präpariert in Pose. Eigentlich ist es wie immer in dieser Woche: eine Stunde Sitz-, dann eine Stunde Geh-, dann eine weitere Sitzmeditation. In der Gehmeditation werde ich darauf hingewiesen, dass ich meine Rückwärtslaufbewegungen einstellen möge. Diese hatte ich mir ausgedacht, um mir etwas Abwechslung in den Bewegungsabläufen zu verschaffen. So, wie ich mir als Rechtshänder mit der linken Hand die Zähne putze, um andere Gehirnareale zu trainieren. Aber für solch kreative Varianten ist hier kein Platz. Schade, finde ich.
Diese Überraschungsmeditation ist für mich super anstrengend, da wir nur zu fünft in dem Raum sind und ich mir in dieser kleinen Runde und direkt vor Ing sitzend, Mühe gebe, die Meditation richtig durchzuführen. Ich schaffe es sogar, diesmal nicht einzuschlafen. Dafür ist mein Kopf voller Gedanken, denen ich immer wieder folge. Vom reglosen Sitzen schlafen meine Beine ein und als ich den Schmerz nicht mehr aushalte, bewege ich mich. Wie schaffen es die Anderen, stundenlang in dieser Position auszuharren? Einige der hier lebenden Mönche und Nonnen haben bereits Monate oder sogar Jahre diesen strengen Meditationsrhythmus hinter sich. Nach den Sitzungen dürfen wir Fragen stellen. Ich möchte wissen, ob das lange, stille Sitzen keine gesundheitlichen Schäden am Knie, Rücken oder der Hüfte verursacht. Ing lächelt milde und verneint dies ohne weiter auf meine Bedenken einzugehen.
Am vorletzten Tag unseres Aufenthaltes beginnt im Kloster ein Fest, an dem auch wir teilnehmen dürfen. Die Bewohner der umliegenden Dörfer sind ebenfalls eingeladen. Wo vorher achtsam ein Fuss vor den anderen gesetzt wurde, rennen nun Kinder aufgeregt herum.


Jana und ich kaufen im Klosterladen mehrere Packungen Feuchtigkeitstücher als Spende für die hier lebenden Mönche und Nonnen. Und wir nutzen die Gelegenheit, um dem Kloster auch einen Obolus für unseren Aufenthalt zukommen zu lassen. Dafür werden wir an einem der kommenden Tage beim Frühstück als diejenigen ausgerufen, die an dem Tag das Essen, den Strom und den Nachmittagssaft für alle hier lebenden Menschen spenden. Im Gegenzug werden die Nonnen, Mönche und Gäste uns, in dem bekannten wiederkehrenden choralem Gebet wünschen, das wir frei von physischen und mentalen Leiden sein mögen. Ein schöner Gedanke.
In der Meditationshalle der Männer, die ich heute zum ersten Mal betrete, versammeln sich alle. Es gibt auch hier eine festgelegte Sitzordnung – die Frauen sitzen rechts, die Männer links, die Ranghöchsten ganz vorne und die Gäste ganz hinten. Ich bin froh über diese Aufteilung, denn in der letzten Reihe kann ich mich an die Wand lehnen. Hinter mir ist ein Fenster durch das neugierig einige Kinder aus dem umliegenden Dorf reinschauen. Nachdem alle zur Ruhe gekommen sind, beginnt der Klostervorsteher Kuyinpin Sayadaw seine Rede zu halten. Zunächst auf burmesisch und dann auf englisch. Wir verstehen nicht viel, die Akustik ist nicht gut – es geht um das richtige Meditieren und die Vorzüge de regelmässigen Praxis. Im Anschluss übersetzt Ing die Rede auf thailändisch und ein anderer Mönch wiederholt sie auf vietnamesisch. Nach einem geordneten Abgang finden sich alle zu einem Gruppenfoto ein, welches bis heute die Startseite des Webauftritts des Klosters schmückt. (Hier der Link zur Webseite)



Nach dem Mittagessen, welches heute üppiger ausfällt als die anderen Tage, werden die Nonnen und Mönche im Rahmen eines besonderen Rituals, der eigentlichen Pavarana-Zeremonie, mit vielen kleinen und größeren Dingen bedacht. Sie stellen sich in eine Reihe und laufen langsam vorbei an den Spendern. Nun kommen unsere am Vortag erworbenen Taschen- und Feuchtigkeitstücher zum Einsatz. Andere verschenken Kaffee, Waschpulver, Seife, Zahnpasta, Elektrolytetütchen oder Handtücher. Diese Zeremonie erinnert mich an die Verpflegungsstellen beim letzten Stadtmarathon, nur das es viel langsamer – eben achtsam – zugeht. Angefeuert wird hier nicht. Dafür spüren wir umso mehr Dankbarkeit.



Am Nachmittag haben wir die Möglichkeit, uns frei im Kloster zu bewegen, Fotos zu machen und auch die Umgebung zu erkunden. Jana und ich verlassen erstmals seit unserer Ankunft das Klostergelände. Bevor wir das Dorf erreichen, gehen wir an das Ufer eines mächtig breiten Flusses, dem Inawaddy. Die hohen Farne, die untergehende Sonne, die von ihr rosa gefärbten Wolken lassen den Ort sehr idyllisch erscheinen.

Aber schon bald bemerken wir, dass die Realität weniger romantisch ist. Die Hütten, die wir auf unserem Spaziergang sehen, sind aus Stroh, die Dächer bestehen aus Wellblech, der Fluss dient als Bade- und Waschsstelle für Mensch und Tier.



Es liegt viel Müll herum und oft begegnen uns streunende, scheue Hunde. Sie sind noch magerer als die Hunde im Kloster, viele haben Verletzungen und hinken. Ein Hund liegt nicht weit von uns im Ufersand und steht nicht auf, als wir uns ihm nähern. Janas geschulter Blick entdeckt schnell eine offene Wunde an ihm, in der sich bereits dicke Würmer eingenistet haben. Der Hund leckt unentwegt daran, aber das hilft natürlich nichts. Da ihm ein ganz besonders schmerzlicher und langsamer Tod bevorsteht, ist Jana bereits fest entschlossen, diesem einen Hund zu helfen – auch wenn sie noch nicht weiss wie.
Dieser Hunde braucht dringend medizinische Hilfe und Futter. Wir überlegen, wie wir ihm helfen können und beschliessen, zunächst im Kloster nachzufragen. Obwohl alle sehr viel zu tun haben, um das Fest zu organisieren, hört uns Ing zu und sagt, dass der nächste Arzt für Menschen in Saigan lebt, circa eine Autostunde entfernt. Würde er einen Hund behandeln? Und wie bekommen wir den Patienten zum Arzt? Ich möchte ein Taxi organisieren und bin bereit, die Kosten zu übernehmen. Aber Ing winkt ab. Ich rede weiter auf sie ein und bitte sie, sich nach dem Fest um diesen Hund zu kümmern. Sie sagt es mir zu, muss nun aber gehen. Die Abendmeditation ist geprägt vom „wandering mind“ – ich kann mich nicht auf meinen Atem konzentrieren. Hunderte von Gedanken über unseren Spaziergang, die Menschen und die Tiere, die wir sahen, rasen durch meinen Kopf. Was mache ich als nächstes? Soll ich überhaupt etwas tun und wenn ja, was kann mein Wirken schon ändern?
Am nächsten Morgen stelle ich mich beim Frühstück zum ersten Mal in die Reihe „non vegetarien“. Zu meinem grossen Erstaunen ist aber auch hier alles vegetarisch und so lade ich meinen Teller voll mit gekochten Eiern und Tofu. Ich habe eben heute einen außergewöhnlich guten Appetit. Dennoch lasse ich mir extra viel Zeit mit dem Essen, damit meine Tischnachbarinnen vor mir aufstehen. Denn das, was auf dem Teller vor mir liegt ist ja nicht für meinen Magen bestimmt. Es soll möglichst unentdeckt in der mitgebrachten Plastiktüte verschwinden. Ich nutze die Gelegenheit, dass alle mit dem Fest beschäftigt sind und schleiche mich mit dem noch warmen Essen unter meiner Bluse aus dem Kloster hinaus. Der Hund mit der offenen Wunde ist nicht mehr an dem Platz, wo wir ihn gestern gesehen haben. Ich laufe weiter, suche ihn, kann ihn aber nicht finden. So kommen zwei andere, sehr dünne und scheue Vierbeiner in den Genuss von reichlich Proteinen. Zunächst springen sie instinktiv weg, als ich ihnen die vermeintlichen Steine hinwerfe. Doch ihre Nase führt sie schnell zurück zu der Stelle und sie schlingen die Essenklumpen ohne jegliche Kaubewegung herunter. Das Ganze dauert wenige Sekunden, denn weder ich, noch die Hunde wollen unsere jeweiligen Artgenossen auf diese Szene aufmerksam machen. Als wir uns wieder trennen, sehe in den Augen der Hunde grosse Verwunderung über das eben Geschehene. In meinen Gedanken spreche ich die Zeilen, die wir hier am Abend singen: Möget auch ihr frei von Leid sein.
An diesem letzten Tag nehmen wir an der Abschlußzeremonie des dreimonatigen Retreats teil. Der Klostervorsteher hält wieder eine Rede, die auch diesmal in die drei anderen Sprachen übersetzt wird. Mönche, die zum Teil auch von anderen Klöstern angereist sind, sitzen heute auf Holzbänken hinter dem Meister in gleicher Blickrichtung wie er. Buddha wacht hinter allen. Nonnen, Yogis und Gäste sitzen ihnen gegenüber auf dem Boden im Yogasitz und lauschen aufmerksam. Es wird auch gesungen, eingestimmt von einem alten Mönch.


Im Anschluß werden die Mönche, die als erste die Meditationshalle verlassen, von Mitgliedern einer Spenderfamilie aus Vietnam mit jeweils einem halben Wäschekorb voller mehr oder weniger nützlicher Dinge bedacht. Ich bin überrascht, das auch ich als Gast mit kurzer Verweildauer beschenkt werde, vor allem weil darin auch ein Umschlag mit einer Geldspende von 20.000 Kyatt (circa 12 Euro) steckt. Ich bedanke mich wie alle anderen mit zum Gebet gefalteten Händen und einer angedeuteten Verbeugung.



Nun heisst es für uns Abschied nehmen. Wir haben noch zwei Stunden, bevor es mit dem Taxi wieder nach Mandalay geht. Wir packen unsere Sachen zusammen und putzen unsere Hütten. Es ist wie an den anderen Tagen sehr heiss. Die hohe Luftfeuchtigkeit macht mir zu schaffen, der kleinste Handgriff bringt mich ins Schwitzen.
Um 14.00 Uhr treffen Micha und ich uns am Klosterbüro. Wir beschliessen unser letztes Geld und die Spende, die wir beide eben erhalten haben, an Ing weiterzugeben, damit sie Medikamente für den Hund kaufen kann. Ich bin mir nicht sicher, ob das reicht, denn wir kommen gerade mal auf 35 Euro. Sie ist gerührt von unserer Hartnäckigkeit und beruhigt uns. Sie weiss bereits, welche Salbe, welche Kräuter helfen werden und sie fragt uns, ob sie das übrige Geld für die Versorgung der bereits aufgenommen Klosterhunde einsetzen darf. Natürlich!
Was bleibt von dieser Woche?
Das Meditieren bewirkt bei mir, dass ich zwar den Strom der Gedanken nicht aufhalten, aber verlangsamen kann. Durch Fokussierung reduzieren sich diese auf eine geringe Anzahl. Die Stille hilft, das statt einem permanenten Feuerwerk eher einzelne Blitze durch meinen Kopf schießen. Interessant ist, dass die wenigen Gedanken, die sich dann Zugang zu meinem Bewußtsein verschaffen, sehr gute, kreative und förderliche Ideen sind. Ich denke weniger aber klarer. Das hilft mir, wichtige Entscheidungen zu treffen. Für Sekundenbruchteile bin ich eins mit mir. Diese Erfahrung gemacht zu haben, ist sehr wertvoll für mich. Jetzt weiß ich, dass ich es jederzeit wiederholen kann. Natürlich bin ich hier am Anfang eines Lernprozesses, der nie endet. Darauf kommt es auch nicht an. Die Reise ist ja das Spannende.
Ich erlebe wie asymmetrisch sich bei mir innerer und äußerer Wohlstand entwickelt haben. Im Vergleich zu den verschiedenen Zuhauses in Deutschland waren viele Orte während unserer Tour und ganz besonders der spartanisch eingerichtete Bungalow im Kloster Kujinung sehr einfach und komfortfrei. Die Priorität liegt hier auf der inneren Erkundung. Die Erlangung von Zufriedenheit durch Genügsamkeit und Fokussierung ist eine Erfahrung, die ich von diesem Ort mitnehme.
Das Außen wird zur Kenntnis genommen, nicht bewertet, kommentiert oder gar manipuliert. Ich nehme alles wahr und versuche, es dabei bewenden zu lassen. Ich lausche, was in mir passiert. Welche Gedanken und Gefühle kommen und gehen? Wie geht es mir dabei? Das ist nichts für Feiglinge. Manchmal halte ich es kaum aus. Ich übe mich darin, durch die Steuerung meiner Gedanken auch meine Gefühle zu lenken. Mal gelingt es besser, mal weniger. Auch dies ist ein Pfad, dessen Ziel ich nicht kenne. Aber ich laufe schon mal los. Doch allein der Umstand, dass ich gestartet bin, lässt mich lebendig und bewusster fühlen. Das, was ich entdecke, hat mit mir zu tun. Das bin ich. Nicht, dass mir alles gefallen würde, was mir meine vielen Ichs da versuchen aufzutischen. Aber ich sag mir: lass sie alle reden – am Ende trifft mein Wesenskern, mein Verstand und mein Herz, also ich als Einheit die Entscheidung, wo es langgeht. Das ist mein innerer Reichtum. Das ist anstrengend, oft beängstigend, manchmal amüsant, nur selten langweilig. Was ist dagegen schon die nächste Shoppingtour oder das Erreichen der nächsten Sprosse im Hamsterrad?
Ich habe mich wieder daran erinnert, was ich vergessen hatte: das Gefühl der Dankbarkeit ist der Unzufriedenheitskiller Nummer Eins! Alles im Kloster ist kostenfrei, das Essen, die Getränke, die Unterkunft, die Sachspenden oder die Gespräche mit dem Meister und unserer Mentorin Ing. Wir hätten diesen Ort verlassen können ohne einen Cent zu bezahlen. Das ist uns aus dem wohlhabenden Deutschland in einem der ärmsten Länder der Welt passiert. Auch wenn diese Erkenntnis nicht neu ist und manchem banal erscheint, habe ich sie für mich wieder entdeckt und mir vorgenommen, sie nicht mehr zu „vergessen“. Nach der Rückkehr habe ich damit begonnen, jeden Morgen Dinge zu benennen, für die ich dankbar bin, ebenso Menschen, denen gegenüber ich Dankbarkeit empfinde. Dabei begründe ich vor mir selbst, warum bzw. wofür ich dankbar bin. Dieser Trick funktioniert bei mir sehr gut, wenn sich bei mir schlechte Laune oder Unzufriedenheit ankündigen. Natürlich klappt das nicht immer, aber fast…
Mir wurde im Kloster bewusst, wie aktiv ich im Alltag bin und mit welcher Geschwindigkeit ich durch mein Leben rase. Ich tue mich sehr schwer mit diesem abrupten Abbremsen und dem plötzlichen Stillstand – mein Körper verlangt nach Bewegung und mein Geist nach Beschäftigung. Oft saß ich in den Meditationen und dachte daran, was ich in dieser Zeit alles erledigen könnte. Was all diese Menschen um mich herum erreichen könnten. Minute um Minute vergingen, ohne dass ich, dass irgendjemand, etwas tat. Das frustrierte mich sehr, negative Gedanken kamen auf, gefolgt von negativen Gefühlen. Die Müdigkeit, die mich immer wieder überfiel, war vielleicht ein unbewusster Zug meines Körpers, um dieser inneren Zerrissenheit zu entkommen. Ich wollte meditieren, wollte das Gefühl des „eins sein mit mir“ erlangen, aber dafür hätte ich einen Weg einschlagen müssen, der meinem Wesen vollkommen widerspricht. Ich bin gut darin, Dinge anzupacken und abzuschliessen. Aber ich kenne nur diese eine Richtung – nach vorne gerichtet und dann: schneller, weiter, höher. So geht es wahrscheinlich den meisten aus meiner Generation in den westlichen Ländern. Das sind unsere gesellschaftlichen Werte, von denen wir geprägt werden, die ganz tief in uns sind und die wir jeden Tag leben. Und dadurch, dass wir sie leben, werden sie zu unserer Wahrheit und wir können gar nicht anders, als genauso weiterzumachen. Aber oft gibt es mehr als nur eine Wahrheit. Völlig andere Lebensweisen sind möglich, andere Werte und Ziele ebenfalls erstrebenswert. Während meines Aufenthaltes im Kloster durfte ich kurz anhalten, innehalten und meinen Blick auf einen der anderen Wege richten. Aber ich konnte diesen Weg nicht weit gehen, zu stark zog es mich in die mir bekannte Richtung.
Und was ist aus dem Hund geworden?
Nach ein paar Wochen erfuhren wir von Ing per E-Mail, dass der Hund zunächst nicht gefunden werden konnte. Dann hatten ihn Kinder aus dem Dorf entdeckt. Nonnen kümmerten sich um ihn, obwohl er wegen seiner schmerzhaften Fleischwunde anfänglich aggressiv war. Doch bald spürte er die Zuneigung und das Wohlwollen, bekam Futter und die für ihn vorgesehene Salbe. Ing adoptierte ihn sogar offiziell als neuen Klosterhund. Weil er so viel Glück hatte, nannte sie ihn Lucky. Als wir beide diese Zeilen lasen, waren wir berührt. Auf den Fotos, die Ing uns sendete war Lucky kaum wieder zu erkennen. Die Wunde war komplett verheilt und bereits mit Fell überdeckt.


Jeder kann helfen, wenn er will. Dafür gibt es jeden Tag die Chance. Nicht immer, doch oft bewirken Kleinigkeiten Großes, wenn wir bereit sind, hinzusehen und etwas zu tun.

