In einer anderen Welt

Nach diesem „Once in a Lifetime und nie wieder – Erlebnis“ der 16-stündigen Überfahrt kommen wir gegen Mittag endlich auf Ha`apai an. Meine Freude, wieder festen Boden unter den Füssen zu haben ist ungefähr so gross, wie bei einem Kind, das als erstes einen schönen grossen Pilz im Wald findet. Wie müssen sich wohl die Seefahrer früherer Jahrhunderte gefreut haben, wenn sie nach mehreren Wochen auf dem Ozean endlich Festland betraten?

Heute gibt es keinen Kaffee. Die vierfache Verriegelung weist auf eine längere Schliessung hin. 

Das Café, das wir uns vorab aus dem Reiseführer als einen ersten Anlaufpunkt herausgesucht haben, ist geschlossen. Wir erfahren, das die Betreiberin noch für weitere sechs Wochen auf Heimaturlaub in Polen ist. Müde und etwas ratlos erblicken wir hinter dem Café etwas, das nach einer Fremdenherberge ausschaut. Es dauert nicht lange bis eine freundlich übergewichtige Frau auf uns zukommt und uns unseren Eindruck bestätigt. Wir inspizieren eins, zwei Zimmer und beschliessen kurzentschlossen, eine Nacht zu bleiben. Diese Absteige an der Strasse ist nicht die Unterkunft, die wir uns für die nächsten Tage vorstellen, aber in Abwesenheit von Alternativen ist es zumindest für eine Nacht schon in Ordnung. Wir träumen von einer einfachen Hütte direkt am Strand und mit einer Hängematte zwischen Palmen. Das Internet schlägt uns mit diesen Kriterien nur zwei ziemlich hochpreisige Ressortanlagen am anderen Ende der Insel vor. 

Fest davon überzeugt, das es auch eine Realität jenseits des Internets gibt, setzen wir darauf, das es noch weitere und vor allem bezahlbare Unterbringungsmöglichkeiten geben muss.

Wir werden wie so oft auf unserer Reise nicht enttäuscht und unsere Zuversicht wird bestätigt. Ein Fleischberg von Frau in der Tourismusinformation wiederholt zunächst im Wesentlichen die Resorts, die wir schon kennen. Ungewöhnlich ist, wieviel Zeit sie sich bei allem lässt und welche Bedeutung sie dem Gesagten verleiht, so als würde sie uns gleich das Geheimnis ewiger Jugend preisgeben. Die Pause zwischen unseren Fragen und ihren Antworten ist so lang, das ich mir nicht sicher bin, ob sie nachdenkt oder gerade Powernapping macht. Ich glaube, ein geduldiger Zeitgenosse zu sein. In diesen Tagen auf Tonga, besonders aber auf der Insel Ha`apai, komme ich mir jedoch wie ein junges Äffchen unter gechillten Schildkröten vor. Aber auch das ist ja Bestandteil unserer Reiseerfahrungen. Ich stelle mich darauf ein. Das kann ich gut. Nach einer wie beschrieben langen Wartezeit scheint ihr plötzlich eine Idee einzufallen- sie reisst die Augen auf und lächelt. Old Tonga Beach –  diese Anlage würde kurz vor der offiziellen Registrierung als Ferienunterkunft stehen und sollte unseren Preisvorstellungen entsprechen. Das tut sie!

Ein Plätzchen direkt am Strand und zwei Hängematten zwischen Palmen mit Meerblick am absoluten Ortsrand mitten im Busch. Zwei Hütten für jeweils zwei Personen sind schon gebaut und bezugsfertig, eine Dritte ist noch geplant. Es gibt eine Gemeinschaftsküche mit überdachter Terrasse und drei Tischen sowie passender Bestuhlung. Daneben steht ein Häuschen mit Dusche/Toilette für alle Gäste. Verwendet wird Regenwasser. Licht gibt es aus der Solarstromanlage vom Dach, das Gas für den Herd kommt aus der Gasflasche. Steckdosen sind hier allerdings Fehlanzeige. Ich merke wie abhängig wir doch sind. Steckdosen oder Ladestationen für elektronische Geräte sind ja bekanntlich die neuen Brunnen. Schliesslich kommt das Wasser hier in Form von Regen verlässlich mindestens ein Mal pro Tag von oben, aber für eine Steckdose ist die dürftig zusammengekittete Solaranlage wohl zu schwach. Unsere Powerbank liefert unseren Geräten Strom für die ersten sechs Tage. Danach muss der Grundstücksbesitzer den benzinbetriebenen Generator anwerfen, um alles wieder aufzuladen. 

Unsere Vermieter, froh über uns unerwartete Vorsaison-Gäste, geben sich sehr viel Mühe mit uns und leihen uns unter anderem ihre private Schnorchelausrüstung aus. Im Ort gibt es in den von chinesischen Einwanderern geführten Minimärkten so etwas nicht. Und überhaupt ist die Auswahl dort sehr übersichtlich. Ich habe ein Déjà-vu und fühle mich wie von einer Zeitmaschine in die DDR der siebziger Jahre zurück versetzt. Das, was wir suchen gibt es nicht, dafür aber vieles, was wir nicht brauchen: Tischdecken, Plastikeimerchen und Wäscheständer. Da es sonst nicht viel zu tun gibt auf Ha`apai, sind wir froh über die Schnorchelausrüstung. Wir probieren sie noch am gleichen Tag aus und sind im Wasser.

Ich spüre die Brille, die sich eng in mein Gesicht presst. Es fühlt sich an wie eine Saugglocke, die mit grossem Appetit alle Mitesser einatmet. Es darf kein Wasser hineindringen. Der Schnorchel wird an einer Seite an die Taucherbrille fixiert, damit dieser nicht wie ein zu kleiner Strohhalm in einem zu grossen Kino-Cola-Trinkbecher hin-und herwackelt. 

Es ist flach und wir stellen fest, das wir nur wenig Platz zwischen uns und den Seepflanzen und später auch den ersten Korallen haben. Um uns an den scharfen Korallen nicht zu verletzen, erkundigen wir uns nach den Gezeiten, so das wir an den Folgetagen erst bei Flut wieder ins Meer gehen. Unsere Ausflüge werden von Tag zu Tag länger. Wir haben Spass, obwohl zumindest meine Schwimmkünste überschaubar sind und sicher nicht Rettungsschwimmerqualtitäten haben. Während Jana recht geschmeidig und ausdauernd durch das Wasser gleitet, fühle ich mich eher wie ein Eisbär, der über kurze Strecken schnell und wendig agiert, jedoch froh ist, bald wieder auf seiner geliebten Eisscholle zu pausieren.

Schnorcheln – Eine Filmkomödie. (Ton an macht mehr Spass)

Ich bin beeindruckt von der Vielfalt des Lebens unter Wasser: Blaue Seesterne, Seegurken oder einfach nur jede Menge farbiger Fische. Deutlich wird auch, das sie sich vor allem an den Korallen aufhalten. In den Abschnitten, wo es nur Sand, Steine oder Muschel – bzw. Korallenreste zu sehen gibt, sind kaum Fische vorzufinden. Einmal bekommen wir nur wenige Meter unter uns tatsächlich eine schwarzweissgestreifte Seeschlangen zu Gesicht. Diese sind hochgiftig, jedoch absolut nicht an Menschen interessiert. Trotzdem mischt sich in die Entdeckerfreude ein kleiner Schrecken. Und immer wieder gibt es diese wunderbaren Momente, wenn ich in einen Schwarm kleiner blauer Fische hinein schwimme und für Sekundenbruchteile ein Teil von ihnen zu sein scheine.

Einmal in der Woche findet in Hafennähe ein Markt statt. Nach Tagen der unfreiwilligen Obst- und Gemüseabstinenz hoffen wir so sehr darauf, dort nun endlich frisches Grünzeug kaufen zu können. Wir sehen vier Stände, die es unter der Woche dort sonst nicht gibt: einer bietet Klamotten an, einer grillt Fleischspiesse, eine Frau verkauft selbstgebackenen Kuchen und am letzten Stand werden grüne Blätter angeboten. Wir freuen uns schon und hoffen auf eine Art regionalen Spinat. Unsere Enttäuschung ist jedoch gross, als uns gesagt wird, dass dies die Blätter sind, in denen man das Fleisch zum Grillen einwickelt. Essen kann man die Blätter nicht. Oh je, es bleibt also alles beim Alten. 

Warum ist auf einer Insel, auf der quasi alles wachsen könnte, kein frisches Obst und Gemüse erhältlich? Unsere Gastgeber lächeln auf unseren Frage hin. Bananen, Melonen und Wurzelgemüse wachsen bei jeder Familie wild im Garten. Kokosnüsse und Papayas holen sie sich bei Bedarf aus dem Busch. Und der Bedarf ist, wie wir bereits wissen, eher gering. Wenn demnach alle haben, was sie brauchen, wozu soll man es da auf dem Markt anbieten? Klingt irgendwie logisch, nützt uns aber nichts. 

Die Geringschätzung vegetarischer Kost wird unter anderem auch dadurch ausgedrückt, das die reichlich vorhandenen Kokosnüsse selten auf dem eigenen Teller landen, sondern an die vielen frei herumlaufenden Hausschweine verfüttert werden. Das Aroma beim späteren Verzehr dürfte ziemlich einzigartig sein, was wir jedoch nie erfahren werden. Letztlich bleibt uns nicht anders übrig als verschrumpelte, importierte Äpfel, Orangen und Birnen aus Neuseeland in den chinesischen Mini-Shops zu kaufen. Was für ein Frevel.

Unsere Gastgeber zeigen sich verständnisvoll und bringen uns nun regelmässig frische Kokosnüsse und Papayas aus dem Busch mit. Jana und ich werden sogar im Kokosnussspalten fachgerecht unterwiesen, damit wir auch ohne fremde Hilfe nicht an der harten Nuss verzweifeln. Das dafür benötigte Werkzeug, eine Machete, wird uns für die Zeit des Aufenthaltes überlassen.

Zweimal gehen wir tatsächlich auch selbst mit der Machete bewaffnet in den Busch und erjagen uns zwei Papayas. Eine willkommene Abwechslung zu den trockenen Winteräpfeln. 

Auf zwei Ausflügen mit einem gemieteten Auto an das andere Ende der Insel lernen wir die eingangs erwähnten Ressorts kennen. Diese liegen unmittelbar nebeneinander, sind hübsch gestaltet und bieten natürlich etwas mehr Komfort (zum Beispiel Steckdosen und Sitzsäcke). Sie haben jeweils ein Restaurant, in denen wir eine Pizza und einen Fallafelwrap geniessen. Allerdings herrscht auch hier ein Mangel an dem, was wir bereits überall auf der Insel vermissen. Der schöne breite Sandstrand und das türkisfarbene Meer laden uns zum Schnorcheln ein. Allerdings bleiben wir nur Tagestouristen. Wir erwecken augenscheinlich Interesse, als wir berichten, dass wir uns am anderen Ende der Insel ebenfalls direkt am Strand eingemietet haben. Das Wissen darum, das hier zwei Übernachtungen soviel kosten wie zehn Tage an unserem kleinen Privatstrand, gibt mir das gutes Gefühl, alles richtig gemacht zu haben.

Wir zweckentfremden den Sitzsatz des Luxusressorts und liegen auf ihm.
Fahren ohne Führerschein und ohne Schuhe.

Einen Führerschein oder sonstige Nachweise will übrigens keiner sehen. Aber was soll auch schon passieren auf einer kleinen Insel, auf der jeder jeden zu kennen scheint und nur zweimal in der Woche eine Fähre anlegt. Die Fahrtzeit von einem zum anderen Ende beträgt etwa 30 Minuten ohne Zwischenstopp bei einer Geschwindigkeit von etwa 40 km/h. Mehr lassen die Strassenverhältnisse nicht zu.

Auffällig ist die grosse Anzahl von Kirchen und Grabstätten. Auf Tonga dominieren die sogenannten Freien Kirchen (Methodisten, Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage/Mormonen, Siebenten-Tags-Adventisten und Assembly of God sind die vier grössten Gruppen). Diejenigen, die es sich leisten können, nutzen die Möglichkeit, ihre Verstorbenen auf ihren privaten Grundstücken zu beerdigen. Dadurch scheint die Religion und der Tod visuell präsenter als gewohnt. Die Gräber wirken nicht düster, eher bunt, mit Fähnchen, Windrädern oder Permanentfotos der Verstorbenen. Über einem Grab hängt sogar ein riesiges Schild mit „Happy Birthday“, was schon etwas makaber auf uns wirkt. 

Insgesamt habe ich den Eindruck, das die meisten Menschen in Tonga zwar materiell (sehr) arm sind, sich jedoch gegenseitig helfen. Zumindest habe ich keine Obdachlosen oder vereinsamte, alleingelassene Menschen wahrgenommen. Jeder scheint irgendwie aufgefangen zu werden und bekommt eine Aufgabe. Dafür wird er durch eine kirchliche und familiäre Gemeinschaft unterstützt. Die Anteilnahme und Hilfe der Familien untereinander ist stark ausgeprägt. Fremden gegenüber habe ich stets respektvolle Freundlichkeit erlebt. Nie habe ich mich bedroht gefühlt. Dieser würdevolle Umgang der Menschen miteinander hat mir sehr gut gefallen. Das ist eine Erkenntnis, die mich auf der weiteren Reise begleiten wird.

Elf Tage nach unserer Ankunft besteigen wir für den Rückweg wieder eine Nussschale, diesmal mit zwei Tragflächen und zwei Propellern. So müssen sich die „Männer in den fliegenden Kisten“ kurz nach der Erfindung der bemannten Luftfahrt gefühlt haben. Zwischen Start und Landung liegen nur 45 Minuten. Die vielen kleinen und grösseren Inseln unter uns erinnern an Fruchtstücke in einem Joghurt. Nach Essen ist uns auch bei der Rückreise auf die Hauptinsel nicht zumute.

Nach der Landung wartet Sam erneut mit dem Wagen auf uns, um uns abzuholen und uns in das vertraute Gästehaus auf Tongatapu zu fahren. Ich bin froh, ein bekannte Gesicht zu sehen. Ja, Ha`apai ist eine andere Welt und war für mich ganz bestimmt ein kleines Abenteuer. War es waghalsig? Nein. Ein Zitat von Paulo Coelho aus meinem Notizbuch fällt mir dazu auf: „Wer denkt, Abenteuer seien gefährlich, sollte es mal mit Routine versuchen: Die ist tödlich.“

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