Die Dame am Ticketschalter der Fährgesellschaft und ich kennen einander. Ich bin nicht das erste Mal hier. Also was soll es denn nun sein:
- Einzelkabine mit Verpflegung
- Einzelkabine ohne Verpflegung
- Freie Platzwahl mit Verpflegung
- Freie Platzwahl ohne Verpflegung
Wer uns ein bisschen kennt, der weiss natürlich, welche Kategorie wir wählen.


Mit dem Ticket in der Hand und unseren Rucksäcken auf dem Rücken gehen wir in den teilweise überdachten, aber offenen Wartebereich. Wir haben auch eine Einkaufstüte voller Notproviant bestehend aus Tofu, Mandelmilchpulver, Sojageschnetzeltem und Nüssen dabei. Diese Eiweissleckereien haben wir aus weiser Vorahnung (ok, ok und Google) noch in Neuseeland gekauft.

Einige Männer warten sitzend und quatschen miteinander. Sie sind wie die meisten Frauen hier, sehr gross und wirken kräftig. Keiner mit dem man sich um einen Keks streiten möchte. Ich bin froh, dass Micha neben mir sitzt und mit der Zeit auch einige Familien mit kleinen Kindern eintreffen. Viele von ihnen haben in Strohmatten eingerollte Decken und Kopfkissen dabei.
Die Zeit bis zum Boarding vergeht nur langsam. Es fängt an, leicht zu regnen. Wir beobachten die Familien, wie sie schutzsuchend unter den überdachten Flächen zusammenrücken. Wir sind freundlich und lächeln den wartenden Menschen sowie den tobenden Kindern um uns herum zu. Sie lächeln alle zurück. Ist es nur die uns bereits vertraute Freundlichkeit oder schwingt da auch ein „Ihr-wisst-ja-gar nicht-was-euch-erwartet“- Grinsen mit? Wir haben in der Tat keine Ahnung, was da in den nächsten Stunden auf uns zukommen wird.

Anders und vielleicht auch aufregend wird es, das vermuten wir. Schon die unmittelbare Reisevorbereitung für diese Überfahrt war ein kleines Abenteuer. Ein Rückblick:
Auf dem Flyer steht, dass die Fähre einmal pro Woche entweder Montags oder Dienstags um 19 Uhr ablegt. Man solle sich vorab erkundigen. Das tun wir im Touristeninformationszentrum und erfahren, dass der Termin noch nicht fix ist, dass sie jedoch wahrscheinlich am Dienstag um 18 Uhr abfährt. Wir sollten uns dies einen Tag vor Abreise nochmal bestätigen lassen. Wir rufen rechtzeitig an. Ja, tatsächlich die Fähre fährt diese Woche am Dienstag ab, und zwar um 19 Uhr. Hmm. Ich beschliesse zum Hafen zu gehen und bei dem Betreiber direkt nachzufragen. Ein Verpassen der Fähre wäre schliesslich auch blöd, wenn sie so selten fährt. Die propere Dame am Ticketschalter nickt freundlich und bestätigt 18.00 Uhr. Alles klar. Geht doch.
Und hier stehen wir nun, gespannt wartend und froh, dass soweit erstmal alles ganz gut geklappt hat. Die Fähre wird noch immer beladen – bereits gestern habe ich sehen können, wie Container auf das Schiff gehoben wurden. Auch jetzt herrscht noch ein reges Treiben – nun werden zahlreiche Kühlschränke und Waschmaschinen einzeln auf die Fähre befördert. Die Menschen müssen sich noch gedulden.

Irgendwann kurz vor 18 Uhr wird der Absperrzaun geöffnet und die Passagiere dürfen über einen kleinen Steg das Schiff betreten. Es gibt kein Speedy Boarding und es bedarf auch keiner dreisprachigen Durchsage, dass Familien mit kleinen Kindern zuerst an Bord gehen dürfen. Das scheint hier jedem klar zu sein. Und so reihen wir uns irgendwo in der Mitte ein und besteigen das Schiff, welches in den nächsten 16 (!) Stunden unser Zuhause sein soll.
Wer jetzt denkt, dass wir riesige Strecken auf dem noch riesigeren Pazifik zurücklegen werden, der irrt. Unser Reiseziel, die Inselgruppe Ha’apai liegt nur 180 Kilometer nördlich von Tongatapu. Also eigentlich nur ein Katzensprung, der einer etwa zweistündigen Autofahrt auf einer deutschen Landstrasse entspräche, jedoch eine halbe Ewigkeit auf einer Fähre dauern kann.
An Board steigen wir achtsam über die schon ausgelegten Matten und Matratzen der lokalen Mitreisenden. Die ersten Familien haben sich bereits im Gang eingerichtet – freie Platzwahl eben. Im Nachhinein kann ich diese Präferenz absolut nachvollziehen – hier ist es überdacht (schützt vor dem Regen), relativ eng (weniger Schaukelspielraum), angenehm warm und luftig.

Im Moment des Betretens erkennen wir all diese Vorteile jedoch noch nicht und sind froh über eine kleine Ecke in einem klimatisierten Raum, die noch frei ist. Da alle anderen sofort Ihre Matten ausbreiten und uns nichts besseres einfällt, halten wir es ebenso.

Es ist 19 Uhr. Das Schiff steht noch im Hafen. Wie wohl überall in der Welt, „wenn jemand eine Reise tut“ wird kurz nach Platzsicherung auch hier auf Tonga erstmal das mitgebrachte Essen ausgepackt. Nur, dass hier natürlich niemand geschmierte Brote und ein Stück Gurke aus einer wiederverwendbaren, PVC-freien und spülmaschinenfesten Tupperdose auspackt. Hier gibt reichlich Instant-Nudeln, Chips, Dosenfleisch und Kekse.
Alles ist gut, wir haben einen tollen Platz abbekommen und unsere unmittelbaren Nachbarn scheinen nett zu sein. Ich hole mein Buch heraus und freue mich auf mindestens drei Stunden Lesezeit bis zum Schlafengehen. Ich sitze also auf meiner Isomatte, den Rücken an die Wand gelehnt. Kaum, das ich die ersten paar Zeilen gelesen habe, läuft rechts von mir die erste kleine Kakerlake in mein Blickfeld. Ich drehe den Kopf und sehe auch gleich ihre grosse Familie. Na toll. Die nächsten Minuten verbringen wir mit Kakerlaken verscheuchen. Sinnlos. Der Familienvater neben uns beobachte unsere Bemühungen und lächelt uns milde an.
Ist es das nicht das gleiche Lächeln, wie zuvor im Wartebereich?

Kurz nach 19 Uhr scheint es loszugehen, es ruckelt und holpert. Die Menschen um uns herum packen ihr Essen ein, legen sich alle auf ihre Matten und machen sofort die Augen zu. Ich wundere mich noch über diese frühe Bettstunde, merke jedoch schnell, dass hier niemand wirklich müde ist. Das Hinlegen dient alleine dem Aufrechterhalten des Wohlbefindens. Auch wir begeben uns nun in die Horizontale und beobachten auf dem Bauch liegend die Szene. Jetzt noch zu stehen wäre gefährlich. Das Schiff schaukelt mittlerweile dermassen, dass die paar freistehenden Koffer in unserem Raum hin und her rollen. Die dösenden Besitzer scheint das jedoch nicht weiter zu stören. Das Licht im Raum ist grell, aus den Lautsprechern kommt der laute Ton eines Actionfilms, der irgendwo in einem anderen Raum auf einem Fernseher gezeigt wird.

Die Klimaanlage ist an. Ich merke, dass mir immer kälter wird. Irgendwann richte ich mich auf, um einen zusätzlichen langen Pullover aus dem Rucksack zu ziehen. Dieses kurze Hinsetzen ist zu viel für mich. Ich empfand vorher bereits ein intensiv-flaues Gefühl in der Magengegend. Nun ist mir kotzübel. Ich muss mich schnell wieder hinlegen. Wo sind eigentlich die kleinen Tüten, die jeder Passagier in einem Flugzeug in den Sitztaschen vor sich findet?
Ich kenne meinen Magen, gut geht es ihm nicht. Keine Sitze, keine Sitztaschen, keine Kotztüten.
Ich überlege schnell, was wir in unserer Provianttasche an überflüssigen Plastiktüten dabei haben und …. muss auch schon hineingreifen. Ich schaffe es gerade noch zu den nicht abschliessbaren Flächen, an denen ein Toilettenzeichen zu sehen ist, nichts worin ich normalerweise eine Sekunde verbringen würde. Dann gibt es kein Halten mehr…

Die Zeit bis zum ersten Stop verbringen wir auf dem Rücken liegend. Es ist die einzige Position, in der wir es einigermassen aushalten. Micha sieht zwar auch nicht gerade wie das blühende Leben aus. Er scheint aber etwas weniger empfindlich zu ein.
An Schlaf ist nicht zu denken, also lassen wir uns von Podcasts berieseln – jeder hat einen Kopfhörer im Ohr. Die Konzentration auf das Gesagte hilft dabei, uns zumindest gedanklich an einen angenehmeren Ort zu versetzen. Jedesmal wenn das Schiff sich neigt, fühle ich, wie sich meine Organe in mir im selben Winkel drehen. Zudem bin ich in einem Zustand der absoluten Gleichgültigkeit und staune über die Fähigkeit des Geistes. Natürlich sehe ich die Kakerlaken neben mir umherlaufen, aber es ist mir jetzt egal. Kakerlaken tun nichts, sie laufen einfach nur herum. Und ich liege hier, unfähig mich zu bewegen. Ich lasse es geschehen.

Irgendwann verringert sich das Schaukeln. Wir hören, wie der Anker ausgerollt wird. Es ist der erste von insgesamt drei Stops in dieser Nacht. Endlich können wir uns aufrichten, durchatmen und einen Schluck Wasser trinken. Es ist kurz nach Mitternacht und wir sind gerade einmal 50 Kilometer vom Abfahrtshafen entfernt. All diese Stunden für eine so kurze Strecke! Die Fähre hat demnach ein Durchschnittstempo von einem mittelmässigen Hobbyläufer bei einem Stadtmarathon. In diesem Moment freue ich mich, dass wir kein Ticket nach Vava’u gekauft haben – die Inselgruppe ist der letzte Stop nach insgesamt 310 Kilometern.

Die restlichen Stunden der Nacht verbringen wir genauso auf dem Rücken liegend, wie vorher auch. Das grelle Licht im Raum stört überhaupt nicht, die schnarchenden Menschen neben uns auch nicht, der laute Ton aus den Lautsprechern ist uns egal und an die kalte Luft haben wir uns nun wohl genauso gewöhnt, wie an die Krabbeltierchen. Die Podcast-App spielt ohne Anzuhalten alle geladene Folgen ab – es ist ein kunterbunter Mix aus Nachrichten, Reiseberichten, Interviews und Reportagen. Irgendwann schlafen wir dann doch für ein paar Stunden ein.
Als die Fähre ein weiteres Mal anhält ist es kurz nach 6 Uhr. Wir nutzen den Stop und gehen nach draussen. Es ist noch recht dunkel, trotzdem können wir sehen, dass wir vor einer Insel geankert haben. Kleine Fischerboote kommen auf unser Schiff zu. Zunächst wird ihnen Gepäck in Form von Taschen, Koffern und Kartons zugeworfen. Sobald sie voll sind, fahren sie wieder an Land. Andere kleine Boote kommen nun heran, um Passagiere abzuholen. Es ist interessant zu beobachten, wie alles, was hier ausgeladen werden soll auch ausgeladen wird und jeder Passagier ein Plätzchen auf einem der vielen kleinen Boote findet. Der ganze Stop dauert über eine Stunde.
Bis nach Ha’apai ist es nun nicht mehr weit. Nur noch 40 Kilometer und das Schaukeln lässt zum Glück nach . Micha fühlt sich wohl genug, ein paar Kekse zu essen und einen Kaffee zu trinken. So zuversichtlich bin ich nicht. Ich lege mich nochmal auf die Isomatte und versuche zu schlafen. Der relativ ruhige Seegang hilft dabei. Ich träume vom Strand, von der Sonne, die meine Haut wärmt, von festem Boden unter mir und von meinem Buch, dass ich dann endlich werde lesen können.