Ich fühle mich ungewohnt schwach. Ich phantasiere von einem Dschungel, in dem ich wie in einer grünen Hölle mit seiner feuchten Hitze gefangen bin. Alles sieht gleich und doch immer wieder anders wild gewachsen aus. Durch die Machete in meiner rechten Hand fühl ich mich etwas sicherer. Ich höre die intensiven Rufe der Makaken sowie verschiedene Vogellaute, die ich nicht zuordnen kann. Meine Kleidung ist schweissgetränkt. Plötzlich bewegt sich etwas in meinem Rücken, Äste brechen, ich spüre leichte Erschütterungen des Bodens. Die Machete fest umklammernd drehe ich mich langsam um. Ein tiefes Brummen schallt von oben auf mich herab. Es kommt aus einem pelzigen Gesicht. Ich werde vorsichtig neugierig beobachtet. Dann verschwindet plötzlich alles um mich herum. Stimmen aus einer anderen Sphäre dringen an mein Ohr. Mein Bewusstsein übernimmt wieder und ich sehe in zwei wunderschöne, wenn auch besorgt wirkende blaue Augen über mir. Jana reicht mir frisches Wasser und die nächste Paracetamoltablette.

Mir ist heiss, sehr heiss. Mein Kopf, der Hals und die Brust glühen. Jana legt mir einen frischen Eisbeutel auf die Stirn und erneuert die Wadenwickel. Das Hotelpersonal ist inzwischen im Bilde und fragt nicht mehr nach dem Grund für das viele Eis oder will dafür extra vergütet werden.
Wir verbringen insgesamt eine Woche in diesem Business Hotel in Sandakan auf Borneo. Diese Hotelkategorie ist ungewöhnlich für uns. Aber es ist die Unterkunft, die sich am nächsten zum Krankenhaus befindet und wir damit im Notfall kurze Wege haben. Die Ärzte dort haben mich bereits gründlich untersucht und weder Malaria- noch Dengue-Fieber-Erreger im Blut festgestellt. Die Symptome mit Kopf- und Gliederschmerzen sowie hohem Fieber, das innerhalb weniger Stunden bis auf knapp unter 40 Grad anstieg, waren da. Zum Glück wurde nur eine Virusinfektion attestiert. Die hatte es allerdings in sich.

Sie zwingt uns zu einer Pause unseres auf zwei Wochen angelegten Freiwilligeneinsatzes beim Sunbear-Conservation-Center in Sepilok, Borneo (Malaysia). Auf unserer Reise wollen wir nah an den Menschen und Kulturen sein, aber auch die Natur erfahren. Des weiteren möchten wir etwas geben, konkret etwas für Andere tun ohne dafür eine Gegenleistung zu erwarten, einfach nur, weil wir es wollen und gut finden. Jana hatte schon bei einigen Tierschutzprojekten gearbeitet und es war ihr wichtig, auch auf dieser Reise ein solche kleine Auszeit vom Reisen einzulegen. Nach einiger Recherche stiessen wir auf das Sunbear-Conservation-Center und schicken bereits im Mai unsere Bewerbung ein. Ziel dieses Zentrums und der dahinter stehenden Organisation ist der Erhalt des Lebensraumes der sogenannten Sonnenbären (oder auch Malaienbären) sowie die Pflege der aus Gefangenschaft befreiten oder von Wilderern verletzten Tiere.

Der Sonnenbär ist die kleinste lebende Bärenart. Ihr Verbreitungsgebiet ist auf wenige Gebiete in Sumatra und Borneo sowie vereinzelt im südlichen China zusammengeschrumpft. Die Weltnaturschutzunion (IUCN) sowie das Washingtoner Artenschutzabkommen (CITES) zählen sie zu den bedrohten Arten.

Dieser sympathische Bär zeigte uns regelmässig seine Kletterkünste. Wer Lust auf ein Video der Artisten hat, dem können wir dieses supersüsse Video zweier Bären empfehlen. (Link Video Baumspiele)
Unsere Aufgabe als freiwillige Helfer besteht zu einem grossen Teil darin, gemeinsam mit den zehn festangestellten Pflegern rund 40 Bären mit frischem Futter, welches aus Obst und Gemüse besteht, zu versorgen. Dazu gehört auch die Vorbereitung (Reinigung, mundgerechte Stückelung, ausgewogene Zusammenstellung) und die rituelle Futterverteilung in den Aussenanlagen. Weiterhin sind die Käfige täglich zu reinigen oder sogenannte Enrichments (Fachjargon der Pfleger) wie zum Beispiel Spielmöglichkeiten mit leckerem Zuckerrohr oder mit Honig gefüllte Beissringe zu basteln.



Besonders interessant war es, einmal bei einem Gesundheitscheck eines Bären dabei sein zu dürfen. Nach der Narkosebetäubung bot sich hier die Gelegenheit, die Tiere auch zu berühren, was sonst strikt verboten ist. Wir durften die Temperatur und den Puls messen oder die Schnauze des Bären aufhalten, damit die Ärztin die Zähne behandeln kann.

Wenn diese Bärchen so friedlich auf dem Tisch liegen, kann ich mir vorstellen, warum noch heute reiche (und einfältige) Asiaten diese Tiere mit niedlichen Haustieren verwechseln. Sie können wie Teddybären wirken, sind aber natürlich Raubtiere mit allem was dazu gehört. Und sie gehören in die Natur.
Alle Bären haben Namen, sich diese vollständig zu merken war mir nicht vergönnt. Ein Paar von ihnen sind mir jedoch im Gedächtnis geblieben. Da war zum Beispiel Panda, eine vierjährige Bärendame, die in einem Privatzoo gehalten und dort als Pandabär ausgegeben wurde – daher auch ihr Name. Sie hat grosse Angst davor, aus ihrem sechs Quadratmeter grossen Käfig im Bärenhaus in das Freigehege zu gehen. Grund dafür ist eine negative Erfahrung, die sie mit dem Zaun der Aussenanlage gemacht hat, der permanent unter Schwachstrom steht. Würde der Zaun keinen Strom leiten, wäre es ein leichtes für einen Bären die Absperrung zu demolieren – sei es aus Übermut, Langeweile oder Neugier. Einmal entwischt wäre es jedoch sicher das Todesurteil für die Tiere. In den zum Teil riesigen Aussenanlagen sollen die Bären ihre natürliche Verhaltensweisen wieder erlernen – auf Bäume klettern, Nester bauen, nach Futter suchen, Rinden aufkratzen, Sozialverhalten üben. All jene, die sich gut entwickeln, werden Teil des „Release Programs“ – und haben somit die Chance, wieder in den Wäldern Borneos ein neues Zuhause zu finden. Sieben Bären wurden seit Gründung des Centers 2008 bereits wieder in die Freiheit entlassen. Sie alle wieder in der Natur zu sehen ist das Wunschziel von Wong, dem charismatischen Gründer und Leiter des Zentrums. Leider gelingt das nur den wenigsten Bären, da die meisten entweder zu alt, zu verhaltensgestört, zu „vermenschlicht“ oder aus anderen gesundheitlichen Gründen nicht überlebensfähig in freier Wildbahn wären.
Aber selbst Bären wie Panda, die viel zu lange in menschlicher Obhut gelebt haben und keine Chance auf eine Entlassung haben, sollen zumindest die Freigehege geniessen dürfen. Unter Anleitung der Pfleger sind wir dreimal dabei, wenn sie langsam herangeführt wird, ihren kleinen Käfig zu verlassen. Wir verteilen leckere Snacks wie Wassermelone, Bananen und in honiggetränkte Nüsse in einem extra für diesen Zweck eingerichtetem „Zaun-Trainingsgehege“. Hier soll Panda lernen, dass das grosse Gehege keine Gefahr birgt, solange sie den Zaun nicht direkt berührt. Am Anfang hat sie grosse Angst, sie holt sich nur die Leckerbissen, die sie mit ihrer langen Zunge erreicht ohne dass dafür auch nur eine der vier Pfoten das bekannte Terrain verlassen muss. Sie streckt sich mächtig. Wir sehen ihren inneren Kampf. Sie kommuniziert mit uns: „Schaut doch mal! Da liegen so viele Süssigkeiten! Aber ich traue mich nicht hinein. Was soll ich machen? Kannst du mir nicht helfen?“ Kaum vorstellbar, was so ein ursprüngliches negatives Erlebnis mit einem Stromzaun für psychische Grenzen aufbauen kann und wieviel Zeit und Geduld es bedarf, dieses Trauma wieder aufzulösen. Lange nach unserem Aufenthalt lesen wir auf der Homepage, das Panda das Zauntraining bestanden hat und ihren ersten grossen Spaziergang im Freigehege unternommen hat – welche Freude, das zu lesen!

Besonders ist mir die süsse Mailaienbärin Simone ans Herz gewachsen. Sie hatte ihren Käfig direkt gegenüber dem Eingang zum Bärenhaus und hat die Kunst des freundlichen Posens so zur Vollendung gebracht, das sie laut der centereigenen Homepage die beliebteste Bärin des gesamten Sunbear-Centers ist (Link Homepage Simone). Mit ihrer freundlichen, ruhigen und zugewandten Art fällt es schwer, sich ihrem tapsigen Bärencharme zu entziehen. Zum Abschied bekomme ich ein Abdruck ihrer Tatzen auf Papier geschenkt. Ich lächle und bin dankbar für diese Geste.

Hätte mich das Fieber nicht nach einer Woche umgehauen, hätte ich wahrscheinlich auch so eine Pause gebraucht. Ich muss zugeben, das mich die harte körperliche Arbeit bei Temperaturen um die 30 Grad Celsius und einer neunzigprozentigen Luftfeuchtigkeit stark beansprucht hat. Ich habe grosse Bewunderung für die täglichen Verrichtungen der Bärenpfleger. Auch wenn sie nur etwa halb so alt sind wie ich, haben wir uns viel unterhalten und gelacht. Einer meinte, ich sähe aus wie Keanu Reeves, ein Schauspieler, und zählte mir seine Filme auf. Ach so der Typ von Matrix, ja den kenne ich auch. Toll, dachte ich, gar nicht so schlecht, wenn er mich mit ihm vergleicht.

Die letzten Tage im Sunbear-Center nach der einwöchigen Fieberpause vergingen wie im Flug. Auf Wunsch der Mitarbeiter vor Ort haben wir unsere Eindrücke zusammengefasst. Diese wurden dann später wie die anderer Teilnehmer veröffentlicht (Link Homepage Unser Eindruck). Jede Woche kommen Freiwillige wie Jana und ich und unterstützen die Arbeit des BSBC. Es möchten regelmässig so viele helfen, das mitunter einige vertröstet werden müssen. Die Freiwilligen sind fester Bestandteil der Prozessabläufe. Es wird langfristig mit ihnen geplant. Jeder Freiwilliger zahlt (nicht wenig) Geld dafür, das er hier arbeiten darf.
Die Regel ist ja eher anders herum: Ich arbeite und erhalte dafür eine Vergütung. Hier gibt es eine Organisation, die sich die Mitarbeiter aussuchen kann, die bei ihnen arbeiten wollen und dafür von genau diesen temporären Mitarbeitern auch noch Geld bekommt. Klingt das abgefahren?
Die Frage kann ich mir selbst beantworten. Mir war es das Geld wert, weil es ein Investment in mich war. Ich habe für eine gewisse Zeit, eine sehr erfüllende (und anstrengende) Tätigkeit mit Tieren, zu denen ich sonst niemals Zugang gehabt hätte, ausgeübt. Jeder Handschlag, jede Aktion, jede Handlung hat Sinn gemacht. Die ganze Organisation hat einen übergeordneten Zweck, die Erhaltung der Natur und des Lebens ganz konkret am Beispiel der vom Aussterben bedrohten Sonnenbären. Dieser organisatorische Leitstern klingt für mich einfach attraktiver als beispielsweise nur das Umsatzziel des letztes Jahres zu verdoppeln. Es geht hier nicht einfach nur um Gewinnmaximierung, um ein wenig sinnstiftendes, zweckungebundes Mehr an allem Materiellen. Geld ist hier nur ein Medium, ein notwendiges Mittel, das Richtige aus den richtigen Gründen zu tun. Natürlich muss auch hier der Laden am Laufen gehalten werden, Gehälter und Futter bezahlt werden. Dafür sorgen Sponsoren, Spenden, Erlöse aus dem Verkauf von Eintrittskarten und der Obolus der Freiwilligen. Einen, wenn auch nur kleinen, Beitrag, dazu geleistet zu haben, erfüllt mich mit Freude, Zufriedenheit und Glück. Natürlich will auch ich von meiner Arbeit leben können, was übrigens mit den umgerechnet etwa 350 Euro Monatsgehalt eines Bärenpflegers nicht der Fall wäre. Aber der springende Punkt ist ein anderer:
WER LEISTUNG WILL, MUSS SINN BIETEN.
oder
WER DIE MENSCHEN IM HERZEN GEWONNEN HAT, DER BRAUCHT SICH UM DIE RICHTIGEN KÖPFE NICHT ZU SORGEN.
Diese Sätze haben ich oft gehört und selber auch schon gesagt. Jetzt habe ich sie bewusst erlebt, gefühlt, erfahren. Danke Sunbear Conservation Center.
