Im Reich der Mitte

Wir merken sofort, dass wir in einer gemässigten Klimazone gelandet sind. Es ist Ende August und es fühlt sich für uns auch an, wie Ende August. Es ist warm, aber nicht schwül. Der Airport Express bringt uns in die Innenstadt. Wir schauen aus den Fenstern und sind positiv überrascht über das viele Grün um uns herum. Die hier wachsenden Laub- und Nadelbäume kommen uns vertraut vor. Es ist ein bisschen so, wie nach der Landung in Berlin Schönefeld und die anschliessende Fahrt mit der S-Bahn durch den Bezirk Treptow, bevor man im Gewusel der Hauptstadt aussteigt. 

Aber eben nur ein bisschen. Der Beijing Capital Airport Express ist viel schneller und moderner als die S9 nach Spandau. Es gibt an jedem Sitz USB Stecker, um das Handy mit Strom zu versorgen, während man im kostenlosen Wifi der Bahn surft. Die Hochhäusern, an denen wir vorbei fahren, sind wesentlich höher als die Plattenbauten in Berlin. Die Strassen, die in die Hauptstadt drängen, sind hier mindestens sechsspurig. Einen Stau sehen wir nicht und überhaupt scheinen die Chinesen kein Verkehrsproblem in Peking zu haben. Die meisten Autos fahren mit Elektromotor oder Gas – sie sind leise und für die menschliche Nase recht geruchsneutral. 

Wir starten gleich am ersten Tag mit unserem Touristenprogramm. Es gibt viel zu sehen in Peking und nach den ruhigen Tagen auf Bali haben wir wieder richtig Lust auf Kultur. Unser erster Anlaufpunkt ist der Tianman Platz, bekannt auch als „Platz des Himmlischen Friedens“.

Dieser ruft jedoch seit 1989 zumindest bei uns westlichen Besuchern keine friedlichen Erinnerungen hervor. Hier wurden vor 30 Jahren Studentenproteste vom chinesischen Militär blutig niedergeschlagen.  Die genaue Opferzahl ist unbekannt. Es sollen damals mehrere Hunderte Protestierende ums Leben gekommen sein. Auffällig ist, dass es auf dem Platz selbst heute noch keine einzige Gedenktafel oder ähnliches gibt, was an das Massaker erinnert. Auch im chinesischen Internet (welches stark von der Regierung zensiert wird) kann der lokale Nutzer angeblich nur mehr oder weniger interessante touristische Informationen über den Platz lesen. Wer sich in China aufhält und etwas über das Ereignis 1989 im Internet erfahren möchte, braucht ein VPN und eine ausländische Informationsquelle. 

Alle uns bekannten Suchmaschinen und sozialen Netzwerke sind in China gesperrt. Was aber nicht heisst, dass die Chinesen internetfaul wären – ganz im Gegenteil. Sie haben nur ihre landeseigenen Seiten und Applikationen, um Informationen zu suchen, sich Nachrichten zu schreiben, Videos zu schauen und Geld zu überweisen. Und sie nutzen diese – ständig. 

Wir kommen uns mit unseren zwei bis drei Jahre alten Smartphones, den weissen Kopfhörern mit Kabelverbindung zum Telefon und mit unseren Geldscheinen vor, wie absolute Hinterwäldler. Wie bemitleidenswerte Menschen aus der Provinz oder wundersame Gesandte aus einem vergangenen Zeitalter. 

Hier ist das Bare etwas Rares.

So haben die meisten Geschäfte zwar noch Bargeld, um uns nach einem Kauf den Differenzbetrag auszuzahlen, aber wir spüren deutlich, dass diese Zahlungsart nur ungern angenommen wird. Hier in China kann wirklich alles per Smartphone bezahlt werden – vom grossen Supermarkteinkauf, über Eintrittskarten für Museen, den kleinen Snack am Kiosk bis hin zum fahrenden Händler auf der Strasse, der frisches Obst und Gemüse auf einem alten Holzkarren anbietet. Alle haben einen QR Code und alle chinesischen Käufer scheinen die Technik begeistert zu nutzen. 

Der groteske Höhepunkt dieser bargeldlosen Gesellschaft ist für uns ein alter Mann, den wir in der Metro sehen. Er ist zu schwach, um zu stehen und so setzt er sich in jedem Abteil auf den Fussboden und spielt ein paar schrille Töne auf einer heruntergekommenen Geige. Vor ihm steht eine kleine Blechschüssel für Almosen. Da aber kaum noch jemand Kleingeld mit sich herumträgt, überrascht der Mann mit Sinn für das Moderne. Um den Hals trägt er einen Anhänger, wie ihn sich Messeaussteller gerne um den Hals hängen, um ihren Namen oder das Logo ihrer Firma zur Schau zu stellen. Auf dem Anhänger des alten Mannes ist jedoch nur ein QR Code von Alipay zu sehen. Man kann dem Bettler ganz bequem per Handy eine Spende überweisen. Wie kommt er wohl an sein virtuelles Geld heran? Wer hat ihm diesen Code eingerichtet? 

Und während ich über dies nachdenke, merke ich, dass sich niemand der Fahrgäste für den bettelten „Metrokünstler“ interessiert. Alle starren ausschliesslich auf ihr Handy und wischen permanent auf der Oberfläche herum. Kurzvideos sind der absolute Hit. Maximal fünf Sekunden Aufmerksamkeit erhält ein Video, bevor es wieder weggewischt wird und der nächste kleine Film gespielt wird. Es geht um Schminktips, Mode, Technik, Haustiere und Kochen. Das Smartphone hat die Menschen hier fest im Griff. Viel mehr als bei uns zu Hause. Ein Digital Detox würde in China auf pures Unverständnis stossen. 

Fasziniert von all diesem Technikhype wollen wir gleich am ersten Abend in ein Restaurant, in dem angeblich Roboter die Gäste bedienen. Nach mehren Anläufen finden wir das Hot Pot Restaurant in der unteren Ebene eines Shopping-Centers. Hot Pot Restaurants – übersetzt: heisse Töpfe – sind nichts Neues und äusserst beliebt bei den Einheimischen.

Es sind Gaststätten, in denen in der Tischmitte ein grosser Topf steht, der mit einer (oder mehreren) Suppe(n) gefüllt wird und in die man dann von der Artischocke bis zum Zucchini alles Mögliche darin kochen kann. Das ist durchaus unterhaltsam für den Gast, ist er doch auch gleichzeitig sein eigener Küchenmeister. Als wir eintreten, werden wir von einem Kellner begrüsst und schnell durch viele Räume in eine Ecke gebracht, wo gerade ein Zweiertisch frei wurde. Er drückt uns ein Tablet in die Hand und geht davon aus, dass wir bereits wissen, wie das Konzept hier funktioniert. Wir haben jedoch keine Ahnung und er sieht uns das an. Hinterwäldler eben. 

Zum Glück kann unser Kellner sehr gut English und versteht unseren Wunsch nach vegetarischer Ernährung. Er bestellt für uns mehrere Portionen: verschiedene Gemüse, Pilze, Tofu und Nudeln. Dann geht er mit uns zu dem Stand, wo sich jeder Gast seine Sosse selbst zubereiten kann. Es gibt eine sehr abwechslungsreiche Auswahl an Dressings, Kräutern und Gewürzen.

Als wir wieder zu unserem Tisch kommen, ist alles Bestellte bereits da. Wir sind überrascht, wie schnell das Essen geliefert wurde. Vor uns stehen zwei Suppen, die permanent am Köcheln gehalten werden. Eine ist schärfer als die andere. Wir geben unsere Zutaten peu à peu in die Töpfe, warten einen Moment und fischen das Essen dann noch etwas unbeholfen im Umgang mit den Stäbchen wieder heraus. Es ist reichlich und schmeckt sehr köstlich – meine deutsche Erziehung verbietet mir, Essen übrig zu lassen, schliesslich soll es morgen ja nicht regnen.

Pappesatt, aber ein wenig enttäuscht über die vielen menschlichen Servicekräfte im Restaurant, fragen wir beim Bezahlen (mit Bargeld versteht sich) unseren Kellner nach den Robotern. Er lächelt und bringt uns in einen Raum, den wir beim Eintreten zwar schon passiert haben müssen, aber nicht bemerkten. Hinter der Glasscheibe sehen wir sie: grosse Roboterarme. Vor ihnen ein riesiges Regal, in der sich hunderte Boxen befinden. In diesen ist je eine vorbereitete Portion. Die Roboter erhalten die Bestellungen der Tablets und picken praktisch in Echtzeit die jeweiligen Boxen, in der sich das bestellte Essen befindet, heraus. Sie legen sie auf einen kleinen, unauffälligen etwa kniehohen schwarze Servicewagen, der das Essen dann selbstständig an den jeweiligen Tisch bringt. Ein perfektes Zusammenspiel. Sie sind der Grund, warum alles so schnell zu den Gästen kommt. Kellner braucht es dann aber doch noch. Sie stellen das gelieferte Essen auf den Tisch und wünschen einen guten Appetit. Und sie helfen Neuankömmlingen wie uns, sich in dieser Welt zurechtzufinden. 

Am nächsten Tag besuchen wir die „Verbotene Stadt“. Es ist der alte Kaiserpalast, zu dem das gemeine Volk bis 1924 keinen Zutritt hatte. Heute ist es eine der Top Sehenswürdigkeiten in der chinesischen Hauptstadt. Um Überfüllungen zu vermeiden, lassen die Behörden seit 2015 maximal 80.000 Besucher pro Tag zu. Zuvor waren es täglich mehr als 100.000 oder manchmal sogar 180.000 Menschen. Obwohl die Anlage riesig ist, verlaufen sich die Menschenmassen, die gleichzeitig mit uns den Palast besuchen, nicht. Es bilden sich Schlangen vor den einzelnen Gebäuden und es wird gedrängelt. Am Schönsten ist es kurz vor der Schliessung. Jetzt fällt die Abendsonne mit ihrem roten Licht auf die alten Gebäude und es gibt nur noch einige andere Touristen. Die Sicherheitskräfte müssen die Wenigen, die noch da sind, regelrecht rausdrängen. Wir sind heute die Bummelletzten.

Eine weiteres „must see“ in der Hauptstadt ist der Himmelstempel, gebaut im 15. Jahrhundert. Diese grosse Anlage symbolisiert die Beziehung zwischen Erde und Himmel, zwischen der menschlichen- und der kosmischen Welt.

Laut der traditionellen chinesischen Geografie ist der Himmel rund und die Erde quadratisch. Deshalb ist es auch möglich das Zentrum der Welt zu bestimmen und hach, wie angenehm: dieser ist in Peking und zwar genau HIER. 

Wir stehen auf dem Mittelpunkt der Erde. 

Natürlich besuchen wir auch den Neuen Sommerpalast, der im 18. Jahrhundert errichtet, im Opiumkrieg von den Briten und Franzosen zerstört und kurz danach von der Witwe des letzten chinesischen Kaisers wieder aufgebaut wurde. Diese wunderschöne, fast 300 Hektar grosse Anlage war damals für die kaiserliche Familie ein „Erholungs- und Friedensgarten“ und der bevorzugte Aufenthaltsort des Hofs in den feuchten und heissen Sommermonaten.  

Und so vergeht unsere Woche in der 21 Millionen Metropole wie im Sauseschritt. Auch wenn wir uns pro Tag nur eine Sehenswürdigkeit anschauen, kommen wir jedesmal sehr spät und recht erschöpft in unserem Hostel an. Es sind stets weite Strecken, die es zurückzulegen gilt. Wir benutzen ausschließlich die Metro, um uns in der Hauptstadt fortzubewegen und trotzdem kommen wir auf über 10 Laufkilometer pro Tag. 

Unsere müden Beine freuen sich über die 24 Stunden dauernde Zugfahrt mit dementsprechend geringen Laufeinheiten, die uns jetzt erwartet. 

Morgen kommen wir im Land der Morgenstille an. 

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