Oasis in the Hinterland

Nach acht Tagen Gruppenreise im Gänsemarsch und unter permanenter, strenger Aufsicht nun wieder die Freiheit zu erlangen, ist zwar ein schönes, aber auch eigenartiges Gefühl. Obwohl China zu Recht nicht mit unserem Verständnis von „Freiheit“ assoziiert werden darf. Überall sind Überwachungskameras angebracht. An jedem U-Bahn-Eingang werden Gepäck und Körper, wie wir es von Flughäfen kennen, gescannt. Im Vergleich zu Nordkorea sind die Menschen in diesem Land jedoch deutlich autonomer. Wir können uns wieder frei bewegen und selber entscheiden, wo wir unser Geld ausgeben möchten.

Die meisten aus unserer Reisegruppe beschliessen, ohne es sich gross zu überlegen, den zweistündigen Aufenthalt in Dandong, der chinesischen Grenzstadt zu Nordkorea, im Starbucks zu verbringen – im Starbucks! Die Preise sind hier ebenso absurd hoch wie in Deutschland. Die Lust auf einen richtigen Kaffee ist aber doch zu stark, als dass wir uns dem Duft und dem Wohlfühlversprechen dieser Marke entziehen können. Mit dem Getränk bekommen wir auch das WIFI-Passwort. Schwupps versinken wir nicht nur in den grossen, bequemen Sesseln, sondern auch in der uns vertrauten weiten Welt des Internets. Auch wir tippen jetzt auf unseren Smartphones herum und möchten nach über einer Woche Kommunikationsisolation der Familie zu Hause kurz Bescheid geben, dass wir wieder gut auf der anderen Seite des Grenzflusses Yalu angekommen sind.

Unsere Route in dem grossen Land. Von Dandong nach Peking sind es 850 Kilometer.

Wir verabschieden uns von den anderen Reiseteilnehmern und bleiben noch zwei weitere Tage in dem Grenzort, um uns hier einen Teil der chinesischen Mauer anzuschauen. Hier soll es nicht ganz so touristisch sein wie in der Nähe von Peking, wo es den überwiegenden Teil der Besucher hinzieht. Am nächsten Tag fahren wir also mit einem Bus eine Stunde raus aus der zweieinhalb Millionen Einwohner zählenden „kleinen“ Provinzstadt. Bei unserer Ankunft in Hushan sehen wir vor uns zunächst ein riesiges Eingangstor mit Ticketverkauf. Wir betreten die Anlage und merken schnell, dass es auch hier sehr touristisch ist, wenngleich es nur wenige andere Besucher gibt. Es scheint, als wurde auch an diesem Ort kräftig renoviert, saniert und alles so gebaut, dass auch diese Sehenswürdigkeit jede noch so grosse Masse an Touristen geschmeidig durchschleusen kann. Wie auch anderenorts, so wurde auch hier nicht gekleckert, sondern geklotzt.

This is a great wall! I want this.

Nach einem kleinen Spaziergang durch einen angelegten Park sehen wir sie: Die Mauer. Sie ist gross, aus massiven Steinblöcken gebaut und grau. Eine Mauer, wie sie sich Trump für Mexiko nicht schöner wünschen könnte. 

Das Original aus dem 15. Jahrhundert ist wohl schon lange nicht mehr zu bestaunen. Ein wenig enttäuscht von der chinesischen Sanierungswut machen wir uns trotzdem auf den ausgewiesenen Weg, der zum grossen Teil auf der Mauer selbst entlang geht.

Es ist recht beschwerlich, es gibt viele Treppen mit hohen Stufen und es geht zum Teil sehr steil bergauf. Auf dem höchsten Punkt angekommen, beruhigen wir zunächst unseren Puls und werfen erneut einen Blick auf das Land, welches wir kurz zuvor besucht haben. Zwischen den grünen Reisfeldern erkennen wir ein kleines Dorf. Zwei Menschen laufen mit einem Ochsen auf einem Schotterweg entlang. Sie sind so nah und doch so unendlich weit weg. Uns trennen nicht nur die chinesische Mauer und der Yalu Fluss, sondern auch mehrere Grenzzäune mit Warnhinweisen voneinander. Militär wacht in den kleinen türkisen Baracken auf der anderen Seite. Eine aus Holz zusammengezimmerte Hundehütte ist daneben zu sehen. Hier patrouillieren also nicht nur Scharfschützen. Ein Schauer läuft mir über den Rücken.

Der Nachtzug bringt uns zurück in die chinesische Hauptstadt und so lassen wir dieses eigenartige Nordkorea nun endgültig hinter uns. Wir kommen am Folgetag früh morgens in Peking an. Alles, was wir an diesem Tag machen müssen, ist, unser Gepäck abzuholen und auf den nächsten Nachtzug zu warten. Wir haben einige Sachen, die wir nicht nach Nordkorea mitnehmen wollten (unseren Laptop) oder durften (Bücher über das Land) in der Reiseagentur in Peking gelassen. Alles ist noch da – wunderbar. Nun haben wir jedoch wieder die zwei schweren Rucksäcke und keine Lust, uns damit weitere Sehenswürdigkeiten anzusehen oder den ganzen Tag am Bahnhof herumzuhängen.

Gleich in der Nähe befindet sich ein Shoppingcenter, welches wir schon kennen und von dem wir auch wissen, dass es dort ein nettes kleines Restaurant gibt. Es ist eine grosse mentale Erleichterung, sich ein wenig auszukennen und zu wissen, wo was ist. Obwohl wir es sehr geniessen auf Reisen zu sein und fortwährend neue Orte zu entdecken, merken wir auch wie kraftraubend dies manchmal sein kann. Sich stets neu zu orientieren, ständig Entscheidungen zu treffen ohne Erfahrungswerte zu haben und permanent dieser Ungewissheit des Unbekannten ausgesetzt zu sein, ist schlicht anstrengend. Da ist es auch mal schön, zu wissen, dass wir in diesem Restaurant ganz sicher einen grossen Salat bekommen und uns dort auch der Kaffee schmeckt. 

Wir verbringen den Tag mit Fotos sortieren, Blog schreiben und mit Menschen beobachten. Dabei fällt uns auf, wie sehr die jungen Leute hier auf ihr Äußeres achten. Alle haben ziemlich coole Klamotten an – graue Mäuse finden wir hier nicht. Das Auffallen scheint, zumindest für diejenigen die sich hier treffen, von hoher Bedeutung zu sein. Nun sind ironischerweise alle so individuell gekleidet, das sie im Kollektiv betrachtet schon wieder einheitlich aussehen. Draußen vor dem Shoppingcenter sehen wir einige Fotografen, die einzelne Individuen und Grüppchen im Vorbeilaufen fotografieren. Vielleicht sind sie hier auf der Suche nach neuen Trends und Models? Womöglich sind diejenigen, die hier im Laufe des Tages mehrmals an unserem Fenster vorbeistaksen, auf der Suche nach ihrer Entdeckung? Es ist ein Sehen und Gesehen werden. Auch wir fallen mit unseren großen Rucksäcken, den mittlerweile stark abgelaufenen Turnschuhen und dem müden Blick, der unsere nächtliche Zugfahrt verrät, unter all diesen bunten Vögeln auf. Wir verkörpern sozusagen den Gegentrend und werden dennoch oder gerade deshalb von niemandem fotografiert.

Der Nachtzug bringt uns nach Yinchuan – der Hauptstadt der Provinz Níngxià. Waren die ersten beiden Nachtzugfahrten in einem Sechser – Abteil ohne Türen (hard sleeper), so gönnen wir uns nun ein Ticket der nächstbesseren Kategorie – ein Vierer – Abteil mit Tür (soft sleeper). So eine Tür ist schon was Feines – hält sie nicht nur Lärm, sondern auch den Zigarettenrauch der Mitreisenden fern. Wenn ich etwas nicht leiden kann, dann ist es beim Schlafen ständig durch den kalten Qualm einer Zigarette geweckt zu werden. Und die Chinesen in den günstigen Waggons quarzen ununterbrochen – auch nachts. 

Unsere Abteilgenossinnen sind diesmal Mutter und Tochter, die in ihre Heimat fahren. Sie sprechen kein Englisch. Dank der recht gut funktionierenden Online – Übersetzer können wir uns jedoch mit ihnen unterhalten. Wir sprechen deutsch ins Telefon hinein, die junge Stimme aus dem Smartphone quakt auf chinesisch zurück. Das es funktioniert merken wir an den Antworten der beiden Frauen. Das was die Stimme uns auf deutsch übersetzt, passt meist inhaltlich zu unseren Fragen. Nur manchmal kichern unsere Mitreisenden und halten uns das Gerät nochmal hin. Da wurde wohl der Inhalt falsch übersetzt. Die Bedeutung vieler chinesischen Wörter ergeben sich häufig nur aus dem Kontext. Wenn unsere Fragen zu kurz sind, ist es für das Programm schwierig, den Zusammenhang richtig zuzuordnen. Trotzdem sind wir begeistert von der Technik und den Möglichkeiten, die sie uns bietet.

So lernen wir auch ein chinesischen Kartenspiel kennen und spielen ein paar Runden. Im Gegenzug lehren wir den Damen das Kinderspiel „Mau Mau“. Wir schauen in fragende Gesichter. Ein deutsches Kartenspiel, was sich anhört wie der Name des grossen grausamen Führers? Wieder kichern die Beiden und sie fragen uns, warum das Kartenspiel so heißt. Hier müssen wir nun passen – wir versichern Ihnen aber, dass es ganz bestimmt Nichts mit Mao, dem längst verstorbenen kommunistischen Parteichef zu tun hat. 

An diesem Abend lernen wir die gastfreundliche und nette Seite der Chinesen kennen. Wir unterhalten uns in normaler Lautstärke, lachen mit ihnen und teilen höflich miteinander unser Essen. Jedoch begegnen wir auf unserer Reise auch Menschen, die sich anders verhalten und auf uns eher rüde oder sogar aggressiv wirken. 

Grosser Mann mit grossem Rucksack.

Dazu fällt mir eine Anekdote ein. Eine kleine Frau, die eine simple Verhaltensregel in öffentlichen Verkehrsmitteln missachtet hat: zuerst aussteigen lassen, dann einsteigen. Micha stand direkt an der Tür in dieser überfüllten U-Bahn und war der erste, der aussteigen hätten können. Wenn, ja wenn ihm nicht diese circa ein Meter fünfzig kleine Frau in den Bauch gelaufen wäre, als die Türen aufgingen. Sie hielt den Blick und damit auch den Kopf nach unten, wie ein Stier beim Angriff und versuchte sich mit all ihrer Kraft in die volle Bahn hineinzudrücken. Micha redete zunächst sanft, dann lauter auf die Frau vor sich ein, doch es half nichts. Sie schaute nicht nach oben, sie strampelte unentwegt auf Micha ein und kam doch keinen einzigen Zentimeter vorwärts. Wahrscheinlich hat ihr einer der anderen Reisenden auf chinesisch gesagt, dass sie doch bitte mal hochschauen soll. Nun sah sie den ein Meter neunzig grossen Mann vor ihr, verstand endlich und trat ein wenig zur Seite.

Yinchuan liegt rund 1.100 Kilometer westlich von Peking und befindet sich eher nicht auf dem Radar der ausländischen Touristen. Wir haben uns diesen Ort genau deshalb bewusst ausgesucht. Wie sieht das China jenseits der Top – 10 – Attraktionen aus? Wir verbringen vier Tage in der Provinz, die sich selbst als „Oasis in the Hinterland“ bezeichnet. Die Menschen kommen uns hier neugieriger vor, sprechen uns an und wollen Fotos mit uns. Eher selten besuchen solch grosse Langnasen wie wir diese Region. 

Interessant finden wir die fast tausend Jahre alten Gräber der ehemaligen Herrscher dieser Region. Die Dynastie der Xi Xia bestand zwischen 982 und 1226, war ein Vielvölkerstaat und wurde von Tanguten, Uiguren, Chinesen und Tibetern bewohnt. Ein grosses, neuerbautes Museum informiert die Besucher über die Geschichte der Xi Xia. Allerdings merken wir auch hier, dass vor allem chinesische Touristen vorbeischauen, denn an englischen Übersetzungen fehlt es meist. 

Am nächsten Tag buchen wir spontan eine Wüstentour bei einer lokalen Reiseagentur, die sich irgendetwas mit „International“ „Travel“ und „Service“ nennt. Die Verständigung klappt trotz Übersetzungsprogramm nur mässig, so dass wir hier praktisch die Katze im Sack kaufen. Wir wollen unbedingt in die Wüste. Hätten wir jedoch im Vorfeld gewusst, was uns erwartet, dann hätten wir unser Geld sicher gespart. Naja, aber das gehört ebenso zum Reisen. Auch hier merken wir wieder, dass wir als ausländische Besucher etwas besonderes sind. Ausser uns hat niemand diese englischsprachige Tour gebucht und so haben wir eine Reiseleiterin exklusiv für uns. Rita, die eigentlich Yang Rui heisst, ist eine chinesische Studentin. Ihre Sprachkenntnisse waren gut, aber sie wirkte oft etwas hilflos. Kein Wunder, wir waren ihr erstes Reisegrüppchen. 

Es erwarten uns also zwei Tage in der Wüste mit einem vollen Programm. Moment, ich korrigiere: Es erwarten uns zwei Tage in der Wüste mit einem ziemlich leeren Programm.

Rita hat kurz offline Spass.

Nachdem wir gegen Mittag am Rand der Tengger-Wüste ankommen, ein kleines aber leckeres Mittag bekommen und mit einem Geländewagen in die Wüste gebracht werden, passiert bis zum Abendessen nicht viel. Wir drehen jeweils eine Runde mit einem Monstermotorrad und einem Kamel durch den staubigen Wüstensand. Dann werden uns zwei Plastikschlitten ausgehändigt, mit denen wir die Dünen hinunterfahren können und werden fortan uns selbst überlassen. Einmal ziehen wir die Schlitten hinauf auf die nächste Düne und versuchen das Ganze sportlich zu nehmen. Rita macht es uns einmal vor und spielt dann wieder gelangweilt auf ihrem Telefon herum.

Es ist jedoch zu heiss, um den gesamten Nachmittag Schlitten zu fahren. Also laufen wir zu den zwei chinesischen Fahnen, die in einiger Entfernung auf einer anderen Düne in den Sand gesteckt wurden. Sie sind ein Ziel und spenden zumindest Schatten. 

Von hier oben haben wir einen schönen Blick auf die Wüste. Doch es kommt schnell ein Gefühl von Langeweile auf. Wir albern herum, machen Quatschfotos und kommen auf dumme Gedanken.

Was würde wohl passieren, wenn die Fahne umkippt? Gibt es vielleicht auch hier in der Wüste die omnipräsenten Überwachungskameras? Werden wir beobachtet und gelten dann als Saboteure? Wir sehen schon die Schlagzeilen in der Presse: „Deutsches Pärchen zerstört politisches Emblem in China“. Wir helfen dem Wind ein wenig nach – und schwupps, neigt sich die ehrwürdige Fahne des großes Reiches der Mitte langsam bis zum völligen Untergang dem profanen Wüstensand entgegen. Jetzt lachen wir und warten gespannt ab. Natürlich passiert rein gar nichts. Nachdem wir uns wieder beruhigt haben, rammt Micha die Fahne wieder in den Sand und wir spazieren noch ein bisschen ziellos in der Wüste herum. Immerhin haben wir mit diesem Rundgang zwei Stunden verbracht.

Wir essen früh zu Abend, schauen uns einen eher unspektakulären Sonnenuntergang an und freuen uns über die Kiste Bier, die uns unsere Reiseführerin neben das Zelt stellt. Dann fragt sie uns noch, ob sie uns die Nacht allein im Zelt lassen kann und selbst in einem Haus im nächsten Ort übernachten darf. Natürlich. Sie war sichtlich erleichtert. Mit je zwei Flaschen lauwarmen Tsingtao Bier in der einen Hand und dem Strick des Schlittens sowie Taschenlampen in der anderen, machen wir uns auf, die Wüste bei Nacht zu erobern.

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