
Es nervt. Die Museumsführerin rattert einen in- und auswendig gelernten Text im Eiltempo ohne Punkt und Komma herunter. Sie redet so schnell in diesem asiatischen Englisch, dass wir kaum etwas verstehen. Dabei lässt sie keine noch so kleine Pause zwischen zwei Sätzen zu. Es ist klar, dass wir keine Chance haben sollen, eine Frage zu stellen. Wir werden aufgefordert, jedes erwähnte Artefakt würdigend zu bestaunen und dabei gleichzeitig zügig weiter zu gehen. Ein Widerspruch, der sich leicht auflösen ließe.
Unsere zwei koranischen Betreuer Lee und Kim verfolgen jedoch einen anderen Ansatz und drängen uns, voran zu gehen. Für ihren Geschmack bleiben wir stets einen Tick zu lang vor den uns präsentierten Hinterlassenschaften des ewigen Präsidenten Kim Il Sung stehen. Ständig hören wir es hinter uns rufen: „Gapsida“, was soviel heißt wie „Los geht’s“. Wir fühlen uns wie in einer Kindergartengruppe mit strengen Erzieherinnen alter Schule. Wer nicht der Aufforderung folgt, bekommt auch gleich ein „Balli Balli“ hinterhergerufen: „Weiter, weiter“. Der Vergleich mit dem Kindergarten hackt. Wir fühlen uns eher wie unschuldige Schäfchen, die von einem übermotivierten Border Collie jedesmal in die Hacken gebissen werden, wenn es nicht in seinem Sauseschritt weitergeht. Diese zwei Ausdrücke „Gapsida“ und „Balli Balli“ schienen die Lieblingswörter unserer koreanischen Guides zu sein. Insbesondere die jüngere der Beiden, Miss Kim, nimmt ihre Hütehundaufgabe sehr ernst, weshalb sie von uns den Spitznamen „Miss Balliballi – der Wauwau“ erhält.

Heute ist Miss Balliballi besonders streng mit ihren Schäfchen, also uns, denn heute ist ein mit Terminen über und über vollgestopfter Tag. Für die Koreaner ist es einer der wichtigsten Feiertage des Jahres. Es ist der 9. September, der 71. Jahrestag der Republikgründung.

Nach der morgendlichen Besichtigung fährt uns der Bus zu einem grossen Platz, auf dem bereits ein buntes Treiben herrscht. Mein Blick bleibt sofort an den vielen jungen, adrett gekleideten Menschen haften. Die Frauen leuchten in ihren farbenfrohen Kleidern, die Männer wirken korrekt in weißen Hemden, roten Krawatten und Anzugshosen.


Aus grossen Lautsprechern tönt heitere Musik, sie variiert von Marschmusik über Volkslieder bis hin zu schlagerähnlichen Klängen. Die schmucken Jugendlichen tanzen miteinander und bilden gleichzeitig Formationen, die von oben betrachtet wie ein atmendes Eiskristall anmuten.
Aus unserer Reisegruppe wagen sich die ersten hinein in das geordnete Chaos und kopieren vorsichtig engagiert die Bewegungen der rhythmisch-kreisenden Studenten. Jana und ich schauen auf den gefüllten Platz, dann uns gegenseitig an und überlegen, worauf das Ganze hier hinausläuft. Wir beschließen, Spaß zu haben und uns dem lustigen Treiben anzuschließen. Diese Art von individuellem Kontakt zu den Pjöngjangern scheint erlaubt und sogar erwünscht zu sein. Miss Balliballi arrangiert für uns den Einstieg in die Volkstanzgruppe. Ein junges Paar erwidert unser freundlichstes Lächeln. Danach schwingen Jana mit So Yuan und ich mit Ming Mi das Tanzbein.

Die vier bis fünf Tanzschritte sind massentauglich und selbst für einen BWLer (also ein Bewegungslegastheniker) wie mich, schnell erlernbar. Alles wird mit kontrollierter Begeisterung ohne längere Pausen hintereinander durchgetanzt. Trotz verhaltener Schrittfolgen und mässigem Tempo kommen Jana und ich schnell ins Schwitzen. Es ist schwül und wir sind etwas aufgeregt. Wer hätte das gedacht, das wir ausgerechnet in Nordkorea unseren musikalischen Bewegungsdrang würden befriedigen können? Unter den Augen der verblichenen und trotzdem omnipräsenten ewigen Präsidenten Kim Il Sung und des ewigen Generals Kim Jong Il genießen wir die aufgelockerte Abwechslung. Nach vier Tänzen bedanken wir uns artig bei unseren Tanzpartnern, die beide sehr gut englisch sprechen. Wir können jetzt aufhören, die Koreaner nicht. Noch etwa eine halbe Stunde müssen sie weiter tanzen, bis auch sie geordnet den Platz verlassen dürfen.
War das jetzt alles für die Touristen arrangiert oder hätte dieses Open-Air-Happening auch ohne uns stattgefunden?



Über die Mittagszeit picknicken wir im Moranbong Park, dem grössten Stadtpark und einem beliebten Ausflugsziel der Hauptstadtbewohner. Auf mitgebrachten Decken, Campingstühlen oder einfach nur auf Treppenabsätzen lassen sich Familien, Freunde oder Pärchen nieder, um gemeinsam zu essen, zu trinken, zu lachen, sich zu unterhalten, etwas zu spielen oder zu singen. Die Stimmung ist für hiesige Verhältnisse heiter gelassen bis ausgelassen. Es fühlt sich friedlich und fröhlich an. Es scheint, als ob die Diktatur einen Moment Pause macht.
Ab und zu hören wir ein „Anyoung hashimnikka“ in unsere Richtung, welches lautmalerisch deutlich wohlklingender als das „Balli Balli“ ist. Es ist die Begrüßung, die den höchstmöglichen Grad an Respekt oder Aufrichtigkeit zeigt und wird oft bei wichtigen Gästen oder geliebten Menschen, die man lange nicht gesehen hat, verwendet.
Vor Ort erhalten wir die Lunchpakete. Die Energie brauchen wir auch, denn es herrscht volksfestähnliche Stimmung. Die herzliche Aufforderung einiger Einheimischer, sich ihnen im Gesang oder Tanz anzuschliessen, können wir uns zu ihrer und unserer Freude nicht entziehen. Die für unsere Ohren eher unpopulären Klänge animieren Jana und mich zu schlangenförmigen Bewegungen mit unseren Extremitäten, auch weil unsere jeweiligen Tanzpartner uns dazu ermutigen.

Jana wird von einem Tanzpartner zum Nächsten gereicht. Ich schleiche mich heimlich davon und warte geduldig an einem Schiessstand, um mit sowas ähnlichem wie einem Luftdruckgewähr auf eine runde Scheibe zu zielen. Da ich kaum was treffe (was natürlich nur am miesen technischen Material gelegen haben kann) verliere ich schnell die Lust und lasse Anderen den Vortritt. Von weitem hören wir es schon rufen…..na….eine Idee, was das gewesen sein könnte? Unser Wauwau Miss Kim sammelt ihre Schäfchen ein und treibt die Herde zum Bus. Balli Balli. Schliesslich haben wir heute noch viel vor.


Als nächstes haben wir die Wahl zwischen einem Zirkus- oder einem Opernbesuch. Jana entscheidet sich für die auditiven, ich für die visuellen Reize. Mein letzter Zirkusbesuch war mit Maximilian als er vier Jahre alt war, also vor rund 14 Jahren. Das war in einem kleinen familienbetriebenen Wanderzirkus, in dem jeder Künstler gefühlt ein Dutzend Aufgaben wahrnehmen muss, damit es zum Überleben reicht. Heute fliegen Spitzenakrobaten vor meiner Nase durch die Luft, deren Athletik und Geschicklichkeit mich sprachlos machen. Es handelt sich um Artistik vom Feinsten im vollbesetzten Staatszirkus. Aufgrund des Feiertages können viele Schulkinder kostenfrei zuschauen.


Nun dürfen wir im Duck Barbecue Restaurant unseren Hunger stillen. Wie immer ist ein separater Tisch für Jana, mich und zwei andere Gäste vorbereitet, an dem wir vegetarische Speisen serviert bekommen. Das hat während der gesamten Reise wirklich gut geklappt. Ein lokales Schmankerl ist die typische koreanische kalte Nudelsuppe. Zum Nachtisch wird mit lauter Musik eine mit brennenden Kerzen bestückte grosse Torte in den Saal gebracht. Mister Lee, unser männlicher koreanischer Tourbegleiter, hat heute Geburtstag. Wir gratulieren ihm und freuen uns über den zusätzlichen süssen Nachtisch.

Obwohl es schon spät Abends ist, steht uns der Höhepunkt des Tages noch bevor. Nachdem wir am Vormittag Teil des Massdance, quasi dem Vorprogramm der Massgames, waren und danach im Stadtpark weiter tanzten, sind wir diesmal nur Zuschauer, wenn andere tanzen. Die Massgames sind eine seit den Sechziger Jahren vom Staat organisierte Großveranstaltung, bei der in einem Stadion eine in jeder Hinsicht gigantische Show dargeboten wird. Die Massgames stehen dieses Mal unter dem Motto „Land of the People“. An 28 Abenden im August und September können im 114.000 (früher 150.000) Zuschauer fassenden größten Stadion der Welt, dem May-Day-Stadion, rund 100.000 Darsteller, Künstler, Sportler, mehrheitlich wohl Studenten, Kinder und Jugendliche bei ihren Massenchoreografien bewundert werden. Die Vorbereitungen betragen drei Monate bei täglicher Übung (außer Sonntags).

Normalerweise führt mich selten der Weg in ein Stadion. Ich meide sonst Großveranstaltungen jeglicher Art. Sie sind mir eher suspekt. Menschenmassen insbesondere in Stadien haben auf mich eine eher bedrohliche Wirkung. Für mich fühlt es sich an solchen Orten und in Momenten höchster Massenkonzentration so an, als wenn die schmale Schicht dessen, was wir Kultur nennen durchbrochen und das Animalische und Archaische in uns wieder die Steuerung übernimmt. Das Individuelle löst sich auf. Die Suggestion der kollektiven Macht erstarkt und bricht sich ihre Bahn.

Es ist wohl kein Zufall, dass ausgerechnet in einem der wirtschaftlich ärmsten Länder der Welt jedoch mit einer mächtigen Diktatur das größte Stadion der Welt steht. Der Einzelne zählt nichts. Jeder hat sich der Gemeinschaft und seinen politischen Führern unterzuordnen. Diese Glaubenssätze werden den Menschen hier und uns Gästen auf offene, aber auch subtile Art permanent vermittelt. Das Verrückte ist nur, das sich die Menschen in Nordkorea und bei uns im Westen darin gar nicht so sehr unterscheiden. Der renommierte Stadionarchitekt Volkwin Marg formulierte es in einem Zeit-Interview (zum lesen hier klicken) so: „In einer Demokratie wie der unsrigen fühlt sich der Einzelne als Individuum häufig schwach und machtlos…..Dieser Einzelne fühlt sich in einer Fussballarena unter Gleichgesinnten in der gleichen Emotion ungeheuer mächtig. Dieses Machtgefühl ist so begehrt wie eh und jeh. Der Mensch ist ein Schwarmwesen und wird immer gefährdet sein von der politischen, der ideologischen oder der religiösen Schwarmgeisterei verführt zu werden. „
Vielleicht erklärt das meinen Zwiespalt. Einerseits kann ich mich der euphorisierenden Gefühle als Teil dieser starken Stadion-Gemeinschaft auf Zeit auch nicht entziehen. Es fühlt sich kraftvoll und trotz der Menschenmassen sicher an. Anderseits sehe ich die Gefahr der Manipulierbarkeit von Menschen, wenn deren eigener Verstand durch kollektive Emotionen ersetzt wird.
Hier könnt ihr das Einführungsvideo unseres Reiseveranstalters zu den Mass Games auf YouTube sehen.
Ich freue mich jedenfalls, am Abend Zeuge dieser Vorführung und Teil dieser Emotionen zu sein. Schließlich war diese Veranstaltung, trotz meiner Bedenken zu Massenveranstaltungen, ein wesentlicher Grund für unsere Reise nach Nordkorea. Nach der Eröffnungsveranstaltung im Juni wurden sämtliche Folgetermine auf Eis gelegt. Kim Jong Un persönlich soll mit dem Ergebnis der Darbietung unzufrieden gewesen sein. Alles musste überarbeitet werden. Unser Reiseveranstalter signalisierte jedoch, dass die Darbietungen ab August wieder aufgenommen werden sollen. Aber eine Garantie gab es natürlich nicht. Da die Massgames keinen festen Rhythmus haben, manchmal zwei Jahre hintereinander und manchmal auch mit einem Abstand von 10 Jahren stattfinden, entschieden wir uns, auf gut Glück zu buchen. Und wir wurden erneut belohnt. Allein für diesen Besuch hätte sich der Trip nach Nordkorea schon gelohnt.

Zunächst fällt uns die riesige digitale Leinwand auf der gegenüberliegenden Zuschauertribüne auf. Während die Zuschauer noch ins Stadium strömen und ihren Platz suchen, schauen wir auf ein sich stets änderndes Bild an Buchstaben.
Was wird da gezeigt, was steht da? Wir fragen nach und erfahren, dass hier die Stadtteilnamen gezeigt werden, aus denen die Kinder stammen. Welche Kinder? Na die, die die Tafeln halten. Moment, das da drüben sind gar keine Millionen von Pixel? Da sitzen uns Tausende von Kindern gegenüber, die mit Clipboards ganz analog einen Effekt erzeugen, wie von einer riesigen digitalen Anzeigetafel. Wir kommen aus dem Staunen nicht heraus. Die überwältigende Wirkung wird durch den militärisch exakten und sekundengenauen Wechsel der Schilder erzeugt. Und das ist nur das Vorprogramm bis alle Zuschauer sitzen.
Nun beginnt die eigentliche Show. Auf dem Stadionfeld läuft vieles synchron und entfaltet seine beeindruckende Wirkung durch die schiere Masse an Protagonisten, die sich perfekt aufeinander abgestimmt ordnen, auseinander driften, dann erneut zusammen finden. Alles wird professionell durch ein dynamisches Lichtspiel sowie Propagandamusik in Szene gesetzt. Die unglaubliche Präzision, mit der alles ineinander greift, fasziniert mich. Jeder Szenen- oder Farbenwechsel, quasi jedes Bühnenbild ist perfekt und bis ins letzte Detail durchdacht.
Ich sehe ein viel höheres Level als bei Eröffnungszeremonien von Olympischen Spielen oder Fußballweltmeisterschaften, die ich nur als passiver Fernsehzuschauer kenne. Es war mit Abstand die beste Performance, die ich je gesehen habe. Jana vergleicht diesen optischen mit dem geschmacklichen Genuss Schweizer Schokolade. Wer die einmal probiert hat, will danach auch nichts anders mehr naschen. Das Programm dauert etwa eineinhalb Stunden und endet mit einem Feuerwerk. Es war der fulminante Abschluss dieses Festtages und unseres Aufenthaltes in der Hauptstadt.


Am Ende dieses ereignisreichen Tages und der Reise für die meisten unserer Gruppe lassen wir gemeinsam bei Wein und Bier im Roof Top Restaurant, in der 47. Etage unseres Hochhaushotels, die letzten Tage Revue passieren. Es besteht schnell Einigkeit, das Vieles lange in Erinnerung bleiben wird. Das Jana und ich gerade in Nordkorea so viele Gelegenheiten zum Tanzen hatten, die wir auch genutzt haben, gehört zu den Überraschungen dieser Reise.