Unser Zuhause ist der Zug – zumindest für einen halben Tag oder besser: eine Nacht – diesmal von Xi`an nach Hangzhou. Das hat den Vorteil, die großen Distanzen zwischen den Städten in China ohne gähnende Langeweile überwinden zu können und auch die Hotelkosten für die Übernachtung einzusparen. Inzwischen kennen wir uns aus mit den verschiedenen Komfortvarianten. Deshalb buchen wir auch diesmal wieder das 4`er Abteil. Der Nachtschlaf ist nicht wirklich tief, verkürzt jedoch gefühlt die Fahrt – hingelegt und eingedöst. Wir sind mittlerweile ziemlich robust und können fast überall schlafen. Das hilft auf Reisen, da nicht immer klar ist, wie sie verläuft und wo der Tag endet. Es ist schlau, den Akku dann aufzuladen, wenn sich eine Gelegenheit bietet. Wählerisch darf man allerdings nicht sein. Weder die ständig neuen Abteilnachbarn mit ihren allzu menschlichen Lebensgeräuschen- und düften, noch der Lärm vor der Kabine oder das unrythmische Ruckeln und Schuckeln machen uns inzwischen etwas aus. Diese Genügsamkeit ist definitiv eine wertvolle Gabe, die sich erst so richtig durch unsere Reise entfaltet hat.
Am folgenden Tag erreichen wir gegen Mittag unser Hostel im Zentrum. Mit rund neun Millionen Einwohnern in der Metropolregion und fünf Millionen im Citygebiet liegt die nur etwa 180 Kilometer von Shanghai entfernte Stadt auf Platz neun der größten Metropolen Chinas. Damit ist Hangzhou mit Abstand größer als jeder Ort in Deutschland. Wuhan, mit seinen 7,5 Millionen Einwohnern, kennt ja inzwischen wohl jeder. Aber wer hatte schon mal was von Hangzhou gehört? Ich gebe zu, ich kannte es bis zu dieser Reise auch nicht. Dabei lassen sich erste Spuren menschlicher Siedlungen an dieser Stelle bis zu 4.700 Jahre zurückverfolgen. Laut Wikipedia soll Marco Polo Hangzhou als „schönste und großartigste Stadt der Welt“ bezeichnet haben. Zu seiner Zeit, im 13. Jahrhundert, hatte die Siedlung den weltweit größten Hafen. Heute ist Hangzhou keine Hafenstadt mehr, denn im Laufe der Jahrhunderte verlandete die Bucht. Es wird angenommen, dass die Stadt zu Marco Polos Zeiten eine Bevölkerung von bis zu einer Million Menschen gehabt haben könnte. Damit wäre sie vor Bagdad die größte mittelalterliche Stadt der Welt gewesen. Womit wieder bewiesen wäre, dass das Reisen nicht dümmer macht.

Wir schauen uns etwas in der Altstadt um, merken jedoch schnell, dass diese eine Neustadt mit auf „alt“ getrimmten Fassaden ist. Auch hier wurde vieles ordentlich durchsaniert. Neu, sauber und westlich modern gestaltet scheint das Credo des verantwortlichen Stadtplaners gewesen zu sein oder der Auftrag der Provinzregierung. Die historischen Elemente sind meist so künstlich, das sie so originell wie weiße Tennissocken wirken. Es gibt mehrere breit angelegte Fußgängerzonen mit unzähligen Shops und verlockenden Essenständen. Junge Menschen tummeln sich auf den Straßen. Stolz tragen sie ihre frisch erstandenen Einkaufstüten und beißen appetitvoll in die Fleischspiesschen, die überall angeboten werden. Es herrscht engagiert-lustvolles Geldausgaben im Freiluft – Shoppingpark.


Um wieder ein bisschen Distanz zu dem Trubel zu gewinnen, besuchen wir abends eine nahe gelegene Pagode. Sie dient heute als Teehaus, Museum und Restaurant und zieht auch deshalb einige Ausflugsgäste an. Mit der Einkaufsmeile kann sie zum Glück nicht mithalten. Der Blick auf die untergehende Abendsonne über den Hügeln des Sees verspricht einen entspannten Tagesausklang.

Da uns das Tandemfahren auf der Stadtmauer in Xi´an soviel Freude bereitete, nehmen wir das Angebot unseres Hostels, dort ebenfalls Fahrräder auszuleihen, dankend an. Unser Ziel ist der Westsee, ebenfalls Unesco-Weltkulturerbe und allein in China über 30 mal nachgeahmt. Er ist jeweils etwa drei Kilometer lang und breit. Der Legende zufolge fiel eine Perle, um die sich ein Phönix und ein Drache zankten, auf die Erde und bildete diesen See. Die Zweiräder bieten uns eine sportliche Gelegenheit, ihn und die Landschaft darum zu erkunden. Der junge Mann hinter dem Hosteltresen gibt zu Bedenken, dass es nicht möglich sei, mit den Fahrrädern direkt am Wasser entlang zu fahren. Da unsere Offlinekarte auf dem Telefon mehrere kleine Wege anzeigt, versuchen wir es trotzdem. Ich stelle mir vor, wie es war als ich um die Aussen-Alster in Hamburg joggte – wie sehr ich die Nähe zum Wasser und wie oft ich die sich darin spiegelnde Sonne genoss. Warum sollten wir also auf der Straße fahren, wenn es doch all diese kleinen Wege direkt am See gibt?
Die Antwort lässt nicht lange auf sich warten und lautet: weil es verboten ist. Überall stehen Schilder mit durchgestrichenen Fahrrädern. Die gut ausgebauten ufernahen Pfade sind nur für Fussgänger vorgesehen. Die gedruckten kleinen und großen Hinweise allein würden uns nicht vom Benutzen der Wege abhalten, aber es stehen wirklich fast überall Aufpasser, die uns schnell und unmissverständlich anbellen, sobald wir auf unseren klapprigen Drahteseln in die Nähe des Ufers kommen. Ein bisschen genervt drehen wir um, und fahren eine ganze Weile auf der vielspurigen Straße abseits vom Wasser. Ja, sie umrundet auch den See, aber wir sind zu weit entfernt, um in den Genuß seines Anblicks zu kommen. Parallel oder hinter anderen Autos zu strampeln bereitet wenig Vergnügen.

Immer wieder schauen wir nach Möglichkeiten, uns dem Wasser und der Natur zu nähern und dem lärmenden Verkehrsgewusel zu entfliehen. Wir biegen immer wieder ab und schauen, ob Schleichpfade nicht doch noch für Fahrräder erlaubt sind. Irgendwann entdecken wir eine unbeaufsichtigte Einfahrt und nutzen sofort die Chance.


Ätschi – Bätschi! Wir haben es geschafft! Wir sind direkt am See und genießen von nun an diese herrliche Parklandschaft.
Die Bewegung, dass viele Grün im und am Wasser sowie die sorgfältig errichteten Pfade lassen ein Gefühl von Leichtigkeit und Freiheit aufkommen. Etwas, das ich in anderen Gegenden in diesem großen weiten Land so oft vermisst habe. Wir machen immer wieder Pausen, gehen ein Stück zu Fuß und geniessen den Sonnenuntergang.


An einer Stelle lassen Drachenflieger ihre Papiervögel in der hohen Luft tanzen. Wären nicht die vielen uniformierten Ordnungswächter an (fast) allen Zu- und Abgängen rund um den See sowie die überall gut sichtbar angebrachten Überwachungskameras, könnte ich es eine Idylle nennen.
Der Bahnhof von Hangzhou mutet im Gegensatz zur „Altstadt“ wie ein moderner Flughafen an. Er ist riesig, hell und sehr sauber. Alles ist gut organisiert. Gewartet wird in der Bahnhofshalle. Wir dürfen erst nach Aufruf kurz vor planmäßiger Abfahrt durch das Gate auf den Bahnsteig. Dort steht überall mehr oder weniger freundliches Bahnhofspersonal und komplimentiert uns in die richtigen Wagenabteile. Vor dem „Boarding“ zeigen wir unsere Tickets, direkt beim Einstieg wird erneut kontrolliert. Keine Chance für Schwarzfahrer.



Was wir nicht wissen ist, dass wir zwar ein Ticket haben, aber keinen Sitzplatz. Das gibt es also auch in China. Für uns bedeutet dies, dass wir die Fahrtzeit im modernsten Hochgeschwindigkeitszug des Landes im Gang verbringen müssen.


Zum Glück dauert die Fahrt in die grösste Stadt Chinas und sechstgrößte Stadt der Welt, Shanghai, nur etwa eine Stunde. Es ist die letzte Station unserer Reise durch dieses riesige Land. Wir nehmen uns zwei Tage für die Megametropole – mehr wollen wir uns nicht zumuten.
Einer Empfehlung folgend, brechen wir am nächsten Morgen auf, um den buddhistischen Jade-Tempel zu besuchen – ein Ort der Ruhe und Spiritualität, wie wir hoffen. Unsere Erwartungen werden nicht enttäuscht. In einem der vielen Tempel gibt es die Möglichkeit, sich auf, ähnlich dem Backpapier, dünnen Papyrusrollen kalligraphisch zu üben. Tinte und Feder können gegen eine kleine Spende ausgeliehen werden.


Auf dem feinen Pergament sind Teile des Dharma (Weisheiten des Buddha) zart wie Wasserzeichen abgedruckt. Die Herausforderung besteht im schwungvoll ästhetischen und doch exakten Nachschreiben. Dabei handelt es sich um eine ebenso interessante wie entspannende Übung der chinesischen Schriftzeichen und des kunstvollen Aufzeichnens. Ich fange vorsichtig an. Schon nach kurzer Zeit stellt sich dieses kontemplative Hochgefühl einer monotonen, jedoch ziemlich beruhigenden Tätigkeit ein. Ich erinnere mich an früher, als ich im Garten den Rasen und die Pflanzen wässerte oder im Kindesalter tagelang Puzzlespiele mit Landschaften oder Städtebildern zusammensetzte. Dabei hatte ich ähnliche Empfindungen.

Eine der vielen Tempelkatzen gesellt sich erst zu Jana, dann zu mir. Nicht, dass sie sonderlich an uns oder unserer Tätigkeit interessiert wäre. Nein – der Tisch an dem wir gemeinsam sitzen ist gross genug und vielleicht ein Lieblingsplätzchen dieser dem Wesen des Buddhismus scheinbar nahe stehenden Tierart.

Wir verbringen den ganzen Tag an diesem Platz der Ruhe und essen zwischendurch im vegetarischen Tempelrestaurant.

Am Abend machen Jana und ich uns auf zum weltberühmten „Bund“ in Shanghai. Es ist die eineinhalb Kilometer lange Uferpromenade entlang des Huangpuflusses auf der sich, wie kann es auch anders sein, hunderttausende Besucher tagtäglich wimmeln. Das Wort „Bund“ leitet sich von einem anglo-indischen Wort für eine Böschung entlang von schlammigem Wasser ab. Zahlreiche hier stehende Häuser sind historische Kolonialbauten im europäischen Stil, in denen heute Banken, Konsulate und Unternehmen untergebracht sind.

Auf der gegenüberliegenden Flussseite sind die vielen Wolkenkratzer und architektonischen Höchstleistungen, die jetzt zur Dämmerung Kulisse einer tagtäglichen Megashow werden, zu bewundern. Der Trubel und die Fülle an Menschen bilden erneut ein Kontrastprogramm zum Nachmittag. Wie bunte Lutscher aussehende Bürotürme leuchten farbenfroh durcheinander und wirken wie Las Vegas am Meer. Es blinkt unentwegt, so dass wir nicht wissen, wo wir als erstes hingucken sollen. Laserlichter kreisen am Himmel, Musik dröhnt aus den Lautsprechern.
So ein Entertainment kennen wir von unseren Grossstädten in Europa nur zu speziellen Anlässen. Hier in China ist das Besondere das Alltägliche – eine nicht enden wollende Party. Wir setzen uns etwas erschöpft vom Geräusch – und Farbenlärm auf eine freie Bank und fangen an zu philosophieren, fragen uns, welches Programm sie eigentlich zu den besonderen Tagen auffahren. Wie lange können und wollen Sie sich noch selbst übertrumpfen? Gibt es denn keine Grenze bei diesem Dauerspektakel? Unendlicher Spaß in einer endlichen Welt? Irgendwann ist der höchste Wolkenkratzer gebaut und die spektakulärste Show gespielt. Irgendwann ist vielleicht das Alltägliche auch hier wieder das Besondere.


Übrigens: die sich in der Tempelanlage befindlichen zwei lebensgrossen Buddhastatuen aus Jade stammen aus Myanmar, der nächsten Etappe auf unserer Entdeckungstour durch Asien und zu uns selbst. Obwohl beide Länder eine gemeinsame Grenze haben, kann ich mir kaum eine gegensätzlichere Grundstimmung in diesen Gesellschaften vorstellen. Ich bin dankbar für meine Begegnungen und Erlebnisse im Reich der Mitte. Keine Ahnung, ob ich hierher noch einmal zurückkehren werde. Heute sage ich eher nein, das muss ich nicht nochmal haben. Das wahres Glück und innere Zufriedenheit wenig mit technischem Fortschritt und materiellen Überfluss zu tun haben, wird auf unserer nächsten Station wieder deutlich.

Ihr strahlt so oft auf den Bildern es muss Euch sehr gut gegangen sein während dieser Reise. Eure Sehnsucht nach Ruhe und Kontemplation sprich t mich sehr an. Alles Gute und liebe Grüße
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Hallo grüner Daumen 🙂
Danke für deinen Kommentar und deine lieben Worte. Ja, die Reise hat uns sehr gut getan, auch wenn sie nun schon ein paar Monate zurückliegt. Wir schreiben dennoch fleissig weiter und freuen uns über treue Leser wie dich.
Liebe Grüsse und bleib gesund
Jana & Micha
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