Schweigen, Schwitzen, Schlafen – Teil 3

Die Erlaubnis, die ich mir nun selbst gebe, ist eine Wohltat für mich. Einige Meditationen lasse ich ausfallen, um etwas Schlaf nachzuholen, um zu lesen oder mich ein bisschen zu dehnen. Nicht nur am Schreibtisch zieht es nach einer Weile im Rücken, gleiches kann auch nach vielen Stunden Meditation passieren. Dabei gestatte ich mir, die Gedanken, die kommen, auch zu verfolgen. Und wenn nach einer gewissen Zeit der Schlafsand wie ein Schmetterling angeweht kommt, dann nehme ich ihn wahr, versuche nicht ihn zu verscheuchen, sondern lade ihn sogar ein, sich auf mir niederzulassen. Ich verändere dann meine Position – vom Schneidersitz in eine Hockposition, mit angewinkelten Beinen, die Arme um die Beine geschlungen und den Kopf auf den Knien abstützend. Das ist eine bequeme und stabile Haltung, für ein kleines Nickerchen. Naja, jedenfalls war sie es bis heute. 

Bereits nach wenigen Minuten verliere ich die sicher geglaubte Stabilität und neige mich nach rechts. Normalerweise wache ich in dem Moment des Kippens auf und kann mich wieder leise und unbemerkt aufrichten. Doch heute ist mein Schlaf bereits zu fest, ich träume schon von einem Fall. Ich falle ins Bodenlose. In Wirklichkeit war der Boden sehr nah, zu nah, als dass ich mich noch hätte sanft wieder aufrichten können. Instinktiv stütze ich mich mit der rechten Hand auf den Boden. Rumms! Das war ein lauter Schlag. Ich bin sofort wach und fange an zu lachen. Eine wirklich komische Situation – alle anderen Yogis und Nonnen waren tief versunken in ihrer Meditation und werden plötzlich aus ihrer Tiefenentspannung abrupt herausgerissen. Meine direkte Nachbarin schaut mich mit grossen, fragenden Augen an und deutet mit ihrer Gestik darauf hin, dass ihr Herz nun rast. Oh je, das tut mir leid. Das Ganze ist mir unangenehm und so versuche ich mich schnell wieder im Schneidersitz auf die Meditation zu konzentrieren. Aber es gelingt mir nicht. Ich kann mich nicht mehr auf mein Atmen konzentrieren. Immer wieder muss ich an die Situation denken und jedesmal kichere ich leise. Kurz darauf verlasse ich die Halle frühzeitig. Es ist fast Essenzeit. Ich freue ich mich auf den Nachmittag – denn diese Meditationen werde ich schwänzen, um: genau – etwas Schlaf nachzuholen. Aber dann richtig, im Bett.

In der Mittagspause legt mir Ing einen Zettel auf den Tisch. Darauf steht, dass es nach der Pause ab 13.00 Uhr eine Special – Session gibt. Das Ganze findet in einem kleinen freundlich-hellen Raum in der zweiten Ebene der Frauen-Meditationshalle statt. Als ich eintrete, sehe ich Jana und das ältere Yogi-Pärchen aus Israel bereits präpariert in Pose. Eigentlich ist es wie immer in dieser Woche: eine Stunde Sitz-, dann eine Stunde Geh-, dann eine weitere Sitzmeditation. In der Gehmeditation werde ich darauf hingewiesen, dass ich meine Rückwärtslaufbewegungen einstellen möge. Diese hatte ich mir ausgedacht, um mir etwas Abwechslung in den Bewegungsabläufen zu verschaffen. So, wie ich mir als Rechtshänder mit der linken Hand die Zähne putze, um andere Gehirnareale zu trainieren. Aber für solch kreative Varianten ist hier kein Platz. Schade, finde ich. 

Diese Überraschungsmeditation ist für mich super anstrengend, da wir nur zu fünft in dem Raum sind und ich mir in dieser kleinen Runde und direkt vor Ing sitzend, Mühe gebe, die Meditation richtig durchzuführen. Ich schaffe es sogar, diesmal nicht einzuschlafen. Dafür ist mein Kopf voller Gedanken, denen ich immer wieder folge. Vom reglosen Sitzen schlafen meine Beine ein und als ich den Schmerz nicht mehr aushalte, bewege ich mich. Wie schaffen es die Anderen, stundenlang in dieser Position auszuharren? Einige der hier lebenden Mönche und Nonnen haben bereits Monate oder sogar Jahre diesen strengen Meditationsrhythmus hinter sich. Nach den Sitzungen dürfen wir Fragen stellen. Ich möchte wissen, ob das lange, stille Sitzen keine gesundheitlichen Schäden am Knie, Rücken oder der Hüfte verursacht. Ing lächelt milde und verneint dies ohne weiter auf meine Bedenken einzugehen. 

Am vorletzten Tag unseres Aufenthaltes beginnt im Kloster ein Fest, an dem auch wir teilnehmen dürfen. Die Bewohner der umliegenden Dörfer sind ebenfalls eingeladen. Wo vorher achtsam ein Fuss vor den anderen gesetzt wurde, rennen nun Kinder aufgeregt herum.

Jana und ich kaufen im Klosterladen mehrere Packungen Feuchtigkeitstücher als Spende für die hier lebenden Mönche und Nonnen. Und wir nutzen die Gelegenheit, um dem Kloster auch einen Obolus für unseren Aufenthalt zukommen zu lassen. Dafür werden wir an einem der kommenden Tage beim Frühstück als diejenigen ausgerufen, die an dem Tag das Essen, den Strom und den Nachmittagssaft für alle hier lebenden Menschen spenden. Im Gegenzug werden die Nonnen, Mönche und Gäste uns, in dem bekannten wiederkehrenden choralem Gebet wünschen, das wir frei von physischen und mentalen Leiden sein mögen. Ein schöner Gedanke. 

In der Meditationshalle der Männer, die ich heute zum ersten Mal betrete, versammeln sich alle. Es gibt auch hier eine festgelegte Sitzordnung – die Frauen sitzen rechts, die Männer links, die Ranghöchsten ganz vorne und die Gäste ganz hinten. Ich bin froh über diese Aufteilung, denn in der letzten Reihe kann ich mich an die Wand lehnen. Hinter mir ist ein Fenster durch das neugierig einige Kinder aus dem umliegenden Dorf reinschauen. Nachdem alle zur Ruhe gekommen sind, beginnt der Klostervorsteher Kuyinpin Sayadaw seine Rede zu halten. Zunächst auf burmesisch und dann auf englisch. Wir verstehen nicht viel, die Akustik ist nicht gut – es geht um das richtige Meditieren und die Vorzüge de regelmässigen Praxis. Im Anschluss übersetzt Ing die Rede auf thailändisch und ein anderer Mönch wiederholt sie auf vietnamesisch. Nach einem geordneten Abgang finden sich alle zu einem Gruppenfoto ein, welches bis heute die Startseite des Webauftritts des Klosters schmückt. (Hier der Link zur Webseite)

Nach dem Mittagessen, welches heute üppiger ausfällt als die anderen Tage, werden die Nonnen und Mönche im Rahmen eines besonderen Rituals, der eigentlichen Pavarana-Zeremonie, mit vielen kleinen und größeren Dingen bedacht. Sie stellen sich in eine Reihe und laufen langsam vorbei an den Spendern. Nun kommen unsere am Vortag erworbenen Taschen- und Feuchtigkeitstücher zum Einsatz. Andere verschenken Kaffee, Waschpulver, Seife, Zahnpasta, Elektrolytetütchen oder Handtücher. Diese Zeremonie erinnert mich an die Verpflegungsstellen beim letzten Stadtmarathon, nur das es viel langsamer – eben achtsam – zugeht. Angefeuert wird hier nicht. Dafür spüren wir umso mehr Dankbarkeit. 

Am Nachmittag haben wir die Möglichkeit, uns frei im Kloster zu bewegen, Fotos zu machen und auch die Umgebung zu erkunden. Jana und ich verlassen erstmals seit unserer Ankunft das Klostergelände. Bevor wir das Dorf erreichen, gehen wir an das Ufer eines mächtig breiten Flusses, dem Inawaddy. Die hohen Farne, die untergehende Sonne, die von ihr rosa gefärbten Wolken lassen den Ort sehr idyllisch erscheinen.

Aber schon bald bemerken wir, dass die Realität weniger romantisch ist. Die Hütten, die wir auf unserem Spaziergang sehen, sind aus Stroh, die Dächer bestehen aus Wellblech, der Fluss dient als Bade- und Waschsstelle für Mensch und Tier.

Es liegt viel Müll herum und oft begegnen uns streunende, scheue Hunde. Sie sind noch magerer als die Hunde im Kloster, viele haben Verletzungen und hinken. Ein Hund liegt nicht weit von uns im Ufersand und steht nicht auf, als wir uns ihm nähern. Janas geschulter Blick entdeckt schnell eine offene Wunde an ihm, in der sich bereits dicke Würmer eingenistet haben. Der Hund leckt unentwegt daran, aber das hilft natürlich nichts. Da ihm ein ganz besonders schmerzlicher und langsamer Tod bevorsteht, ist Jana bereits fest entschlossen, diesem einen Hund zu helfen – auch wenn sie noch nicht weiss wie. 

Dieser Hunde braucht dringend medizinische Hilfe und Futter. Wir überlegen, wie wir ihm helfen können und beschliessen, zunächst im Kloster nachzufragen. Obwohl alle sehr viel zu tun haben, um das Fest zu organisieren, hört uns Ing zu und sagt, dass der nächste Arzt für Menschen in Saigan lebt, circa eine Autostunde entfernt. Würde er einen Hund behandeln? Und wie bekommen wir den Patienten zum Arzt? Ich möchte ein Taxi organisieren und bin bereit, die Kosten zu übernehmen. Aber Ing winkt ab. Ich rede weiter auf sie ein und bitte sie, sich nach dem Fest um diesen Hund zu kümmern. Sie sagt es mir zu, muss nun aber gehen. Die Abendmeditation ist geprägt vom „wandering mind“ – ich kann mich nicht auf meinen Atem konzentrieren. Hunderte von Gedanken über unseren Spaziergang, die Menschen und die Tiere, die wir sahen, rasen durch meinen Kopf. Was mache ich als nächstes? Soll ich überhaupt etwas tun und wenn ja, was kann mein Wirken schon ändern?

Am nächsten Morgen stelle ich mich beim Frühstück zum ersten Mal in die Reihe „non vegetarien“. Zu meinem grossen Erstaunen ist aber auch hier alles vegetarisch und so lade ich meinen Teller voll mit gekochten Eiern und Tofu. Ich habe eben heute einen außergewöhnlich guten Appetit. Dennoch lasse ich mir extra viel Zeit mit dem Essen, damit meine Tischnachbarinnen vor mir aufstehen. Denn das, was auf dem Teller vor mir liegt ist ja nicht für meinen Magen bestimmt. Es soll möglichst unentdeckt in der mitgebrachten Plastiktüte verschwinden. Ich nutze die Gelegenheit, dass alle mit dem Fest beschäftigt sind und schleiche mich mit dem noch warmen Essen unter meiner Bluse aus dem Kloster hinaus. Der Hund mit der offenen Wunde ist nicht mehr an dem Platz, wo wir ihn gestern gesehen haben. Ich laufe weiter, suche ihn, kann ihn aber nicht finden. So kommen zwei andere, sehr dünne und scheue Vierbeiner in den Genuss von reichlich Proteinen. Zunächst springen sie instinktiv weg, als ich ihnen die vermeintlichen Steine hinwerfe. Doch ihre Nase führt sie schnell zurück zu der Stelle und sie schlingen die Essenklumpen ohne jegliche Kaubewegung herunter. Das Ganze dauert wenige Sekunden, denn weder ich, noch die Hunde wollen unsere jeweiligen Artgenossen auf diese Szene aufmerksam machen. Als wir uns wieder trennen, sehe in den Augen der Hunde grosse Verwunderung über das eben Geschehene. In meinen Gedanken spreche ich die Zeilen, die wir hier am Abend singen: Möget auch ihr frei von Leid sein. 

An diesem letzten Tag nehmen wir an der Abschlußzeremonie des dreimonatigen Retreats teil. Der Klostervorsteher hält wieder eine Rede, die auch diesmal in die drei anderen Sprachen übersetzt wird. Mönche, die zum Teil auch von anderen Klöstern angereist sind, sitzen heute auf Holzbänken hinter dem Meister in gleicher Blickrichtung wie er. Buddha wacht hinter allen. Nonnen, Yogis und Gäste sitzen ihnen gegenüber auf dem Boden im Yogasitz und lauschen aufmerksam. Es wird auch gesungen, eingestimmt von einem alten Mönch.

Im Anschluß werden die Mönche, die als erste die Meditationshalle verlassen, von Mitgliedern einer Spenderfamilie aus Vietnam mit jeweils einem halben Wäschekorb voller mehr oder weniger nützlicher Dinge bedacht. Ich bin überrascht, das auch ich als Gast mit kurzer Verweildauer beschenkt werde, vor allem weil darin auch ein Umschlag mit einer Geldspende von 20.000 Kyatt (circa 12 Euro) steckt. Ich bedanke mich wie alle anderen mit zum Gebet gefalteten Händen und einer angedeuteten Verbeugung.

Nun heisst es für uns Abschied nehmen. Wir haben noch zwei Stunden, bevor es mit dem Taxi wieder nach Mandalay geht. Wir packen unsere Sachen zusammen und putzen unsere Hütten. Es ist wie an den anderen Tagen sehr heiss. Die hohe Luftfeuchtigkeit macht mir zu schaffen, der kleinste Handgriff bringt mich ins Schwitzen. 

Um 14.00 Uhr treffen Micha und ich uns am Klosterbüro. Wir beschliessen unser letztes Geld und die Spende, die wir beide eben erhalten haben, an Ing weiterzugeben, damit sie Medikamente für den Hund kaufen kann. Ich bin mir nicht sicher, ob das reicht, denn wir kommen gerade mal auf 35 Euro. Sie ist gerührt von unserer Hartnäckigkeit und beruhigt uns. Sie weiss bereits, welche Salbe, welche Kräuter helfen werden und sie fragt uns, ob sie das übrige Geld für die Versorgung der bereits aufgenommen Klosterhunde einsetzen darf. Natürlich!

Was bleibt von dieser Woche?

Das Meditieren bewirkt bei mir, dass ich zwar den Strom der Gedanken nicht aufhalten, aber verlangsamen kann. Durch Fokussierung reduzieren sich diese auf eine geringe Anzahl. Die Stille hilft, das statt einem permanenten Feuerwerk eher einzelne Blitze durch meinen Kopf schießen. Interessant ist, dass die wenigen Gedanken, die sich dann Zugang zu meinem Bewußtsein verschaffen, sehr gute, kreative und förderliche Ideen sind. Ich denke weniger aber klarer. Das hilft mir, wichtige Entscheidungen zu treffen. Für Sekundenbruchteile bin ich eins mit mir. Diese Erfahrung gemacht zu haben, ist sehr wertvoll für mich. Jetzt weiß ich, dass ich es jederzeit wiederholen kann. Natürlich bin ich hier am Anfang eines Lernprozesses, der nie endet. Darauf kommt es auch nicht an. Die Reise ist ja das Spannende.

Ich erlebe wie asymmetrisch sich bei mir innerer und äußerer Wohlstand entwickelt haben. Im Vergleich zu den verschiedenen Zuhauses in Deutschland waren viele Orte während unserer Tour und ganz besonders der spartanisch eingerichtete Bungalow im Kloster Kujinung sehr einfach und komfortfrei. Die Priorität liegt hier auf der inneren Erkundung. Die Erlangung von Zufriedenheit durch Genügsamkeit und Fokussierung ist eine Erfahrung, die ich von diesem Ort mitnehme. 

Das Außen wird zur Kenntnis genommen, nicht bewertet, kommentiert oder gar manipuliert. Ich nehme alles wahr und versuche, es dabei bewenden zu lassen. Ich lausche, was in mir passiert. Welche Gedanken und Gefühle kommen und gehen? Wie geht es mir dabei? Das ist nichts für Feiglinge. Manchmal halte ich es kaum aus. Ich übe mich darin, durch die Steuerung meiner Gedanken auch meine Gefühle zu lenken. Mal gelingt es besser, mal weniger. Auch dies ist ein Pfad, dessen Ziel ich nicht kenne. Aber ich laufe schon mal los. Doch allein der Umstand, dass ich gestartet bin, lässt mich lebendig und bewusster fühlen. Das, was ich entdecke, hat mit mir zu tun. Das bin ich. Nicht, dass mir alles gefallen würde, was mir meine vielen Ichs da versuchen aufzutischen. Aber ich sag mir: lass sie alle reden – am Ende trifft mein Wesenskern, mein Verstand und mein Herz, also ich als Einheit die Entscheidung, wo es langgeht. Das ist mein innerer Reichtum. Das ist anstrengend, oft beängstigend, manchmal amüsant, nur selten langweilig. Was ist dagegen schon die nächste Shoppingtour oder das Erreichen der nächsten Sprosse im Hamsterrad? 

Ich habe mich wieder daran erinnert, was ich vergessen hatte: das Gefühl der Dankbarkeit ist der Unzufriedenheitskiller Nummer Eins! Alles im Kloster ist kostenfrei, das Essen, die Getränke, die Unterkunft, die Sachspenden oder die Gespräche mit dem Meister und unserer Mentorin Ing. Wir hätten diesen Ort verlassen können ohne einen Cent zu bezahlen. Das ist uns aus dem wohlhabenden Deutschland in einem der ärmsten Länder der Welt passiert. Auch wenn diese Erkenntnis nicht neu ist und manchem banal erscheint, habe ich sie für mich wieder entdeckt und mir vorgenommen, sie nicht mehr zu „vergessen“. Nach der Rückkehr habe ich damit begonnen, jeden Morgen Dinge zu benennen, für die ich dankbar bin, ebenso Menschen, denen gegenüber ich Dankbarkeit empfinde. Dabei begründe ich vor mir selbst, warum bzw. wofür ich dankbar bin. Dieser Trick funktioniert bei mir sehr gut, wenn sich bei mir schlechte Laune oder Unzufriedenheit ankündigen. Natürlich klappt das nicht immer, aber fast…

Mir wurde im Kloster bewusst, wie aktiv ich im Alltag bin und mit welcher Geschwindigkeit ich durch mein Leben rase. Ich tue mich sehr schwer mit diesem abrupten Abbremsen und dem plötzlichen Stillstand – mein Körper verlangt nach Bewegung und mein Geist nach Beschäftigung. Oft saß ich in den Meditationen und dachte daran, was ich in dieser Zeit alles erledigen könnte. Was all diese Menschen um mich herum erreichen könnten. Minute um Minute vergingen, ohne dass ich, dass irgendjemand, etwas tat. Das frustrierte mich sehr, negative Gedanken kamen auf, gefolgt von negativen Gefühlen. Die Müdigkeit, die mich immer wieder überfiel, war vielleicht ein unbewusster Zug meines Körpers, um dieser inneren Zerrissenheit zu entkommen. Ich wollte meditieren, wollte das Gefühl des „eins sein mit mir“ erlangen, aber dafür hätte ich einen Weg einschlagen müssen, der meinem Wesen vollkommen widerspricht. Ich bin gut darin, Dinge anzupacken und abzuschliessen. Aber ich kenne nur diese eine Richtung – nach vorne gerichtet und dann: schneller, weiter, höher. So geht es wahrscheinlich den meisten aus meiner Generation in den westlichen Ländern. Das sind unsere gesellschaftlichen Werte, von denen wir geprägt werden, die ganz tief in uns sind und die wir jeden Tag leben. Und dadurch, dass wir sie leben, werden sie zu unserer Wahrheit und wir können gar nicht anders, als genauso weiterzumachen. Aber oft gibt es mehr als nur eine Wahrheit. Völlig andere Lebensweisen sind möglich, andere Werte und Ziele ebenfalls erstrebenswert. Während meines Aufenthaltes im Kloster durfte ich kurz anhalten, innehalten und meinen Blick auf einen der anderen Wege richten. Aber ich konnte diesen Weg nicht weit gehen, zu stark zog es mich in die mir bekannte Richtung.

Und was ist aus dem Hund geworden? 

Nach ein paar Wochen erfuhren wir von Ing per E-Mail, dass der Hund zunächst nicht gefunden werden konnte. Dann hatten ihn Kinder aus dem Dorf entdeckt. Nonnen kümmerten sich um ihn, obwohl er wegen seiner schmerzhaften Fleischwunde anfänglich aggressiv war. Doch bald spürte er die Zuneigung und das Wohlwollen, bekam Futter und die für ihn vorgesehene Salbe. Ing adoptierte ihn sogar offiziell als neuen Klosterhund. Weil er so viel Glück hatte, nannte sie ihn Lucky. Als wir beide diese Zeilen lasen, waren wir berührt. Auf den Fotos, die Ing uns sendete war Lucky kaum wieder zu erkennen. Die Wunde war komplett verheilt und bereits mit Fell überdeckt.

Jeder kann helfen, wenn er will. Dafür gibt es jeden Tag die Chance. Nicht immer, doch oft bewirken Kleinigkeiten Großes, wenn wir bereit sind, hinzusehen und etwas zu tun.

Osterinseln

Dieses Jahr ist Ostern wirklich anders. Die Wörter Krise, Kurzarbeit und Quarantäne fallen in den Medien so oft, das wir uns deren inflationärem Gebrauch nur durch ein radikales Breakingnews-,Ticker- und Eilnachrichten – Fasten entziehen können.

Dass das Fasten gut tut, gerade wenn um einen herum ein „Zuviel“ herrscht, haben wir bereits gelernt. Kurz bevor alle anderen mit Hamsterkäufen anfingen, beschlossen Jana und ich zu fasten – nicht aus religiösen, esoterischen oder konsumkritischen Gründen. Nach der langen Reise war es einfach mal Zeit für eine Regeneration. Wir wollten unserem Körper die Chance geben, sich mal nicht um die Verarbeitung dessen, was wir ihm zuführen, zu kümmern, sondern um sich selbst. Wer schon mal gefastet hat, kennt das vielleicht: Verdauungs- oder Hautprobleme reduzieren sich und innere Entzündungen wie Gelenkschmerzen gehen zurück. In Kombination mit frischer Luft und viel Schlaf wurden unsere Selbstheilungskräfte gestärkt. Das gefühlte Energielevel erhöhte sich, obwohl in dieser Woche nur Wasser, Tee und verdünnte Gemüsesäfte erlaubt waren. Die Gewichtsabnahme war ein Nebeneffekt, den wir gern mitnahmen, aber nicht Ziel der Übung. Nach sieben Tagen genoßen wir den berühmten Apfel zum Fastenbrechen – eine wahre Explosion der Geschmacksknospen in unserem Gaumen.

Manche Wahrheiten vergesse ich immer wieder, dennoch gelten sie: wenn Du etwas scheinbar Selbstverständliches nicht mehr hast, dann erkennst Du seinen wahren Wert. Das gilt besonders in diesen Wochen. Wir vermissen alle unsere selbstverständliche persönliche Freiheit. Jeder wurde aufgefordert, zum eigenen Schutz und aus Rücksichtnahme auf die Anderen, seine Bewegungsfreiheit einzuschränken – und nun sitzen wir kollektiv getrennt – jeder auf seiner eigenen kleinen (Oster) Insel.

Wir vermissen unsere Mütter, ich meinen Sohn, Jana ihre Katzen, die Familie und Freunde, die wir seit Wochen und Monaten nicht persönlich gesehen haben und nun, aufgrund der gesperrten Grenzen, nicht mehr besuchen dürfen.

Seit unserer Rückkehr nach Europa arbeiten wir im Home Office, fokussiert auf unsere Bewerbungen. Unser Zuhause ist erstmal eine Wohnung zur Untermiete. Der Hausstand ist überschaubar, denn wir leben nach wie vor aus zwei Koffern, zwei Rucksäcken und einer Tasche. Leichtes Gepäck schenkt Freiheit, Leichtigkeit und schafft Räume voller Möglichkeiten. Zum Glück ist unsere temporäre Wohnung vollständig eingerichtet – zwar nicht unser Stil, aber was soll’s. Natürlich spüren auch wir Unsicherheiten. Warum sollte es uns anders gehen als Euch? Wir haben vielleicht nur schon etwas länger gelernt, damit zu leben. Wir haben die Qual der Wahl zwischen Entscheidungen, mal wichtigen, mal nebensächlichen – auf jeden Fall vielen. Aber es sind unsere eigenen Entscheidungen, was sich selbstbestimmt und gut anfühlt. Auch wenn es nicht immer einfach ist, die Konsequenzen zu akzeptieren.

Es ist das regelmäßig wiederkehrende Gefühl der Lebendigkeit, das uns seit unserer Entscheidung für unsere gemeinsame einjährige Auszeit im Frühling 2018, wie ein Schmetterling beschwingt. Wir hielten unser Leben in den gewohnten Bahnen an, um die Perspektive zu wechseln: auf die Welt, die Menschen, die Lebensräume und  – uns selbst. Wir sagten: STOP – und handelten danach. Wohl wissend, das unsere Risiken dabei zwar erheblich, doch kalkulierbar waren. Wie hätten wir uns entschieden, wären wir nicht in der Schweiz oder Deutschland zuhause, sondern irgendwo in Afrika, Lateinamerika oder oder oder? In unseren Blogs lassen wir euch seit einem Jahr daran teilhaben. Noch sind nicht alle Etappen nachzulesen. Unser Ziel ist es, unsere Reiseberichte bis zur Mitte des Jahres zu vervollständigen. Diese Phase des Beobachtens, Wahrnehmens, Zuhörens begann am 12. Januar 2019 in Auckland und dauert eigentlich bis heute an: LOOK.

Nach unserer Rückkehr entschieden wir uns für dieses erste gemeinsames Zuhause, für mehr Menschlichkeit und Freude in unserem neuen Alltag und bei der Verwirklichung unserer beruflichen Ambitionen: CHOOSE. Daran arbeiten wir jeden Tag. Mal gelingt es uns besser und mal nicht. Auch wenn die große Reise durch viele Länder und Kontinente zunächst vorüber ist, so geht unser Weg weiter. Er wird auch nie enden. Ob unser Mut belohnt wird, wissen wir nicht. Aber wir sind voller Zuversicht und Vorfreude auf den Rest dieses einen Lebens, das wir haben.

In weiter Ferne, so nah.

Eine private Zwischenbilanz.

Jana und ich haben im kalten Januar diesen Jahres unsere Reise von Frankfurt aus begonnen. Wir planen etwa elf Monate unterwegs und irgendwann im Dezember wieder in der Heimat zu sein. So betrachtet befinden wir uns jetzt, Anfang Juli etwa in der Halbzeit. Nicht zu allen Stationen unseres Trips haben wir bislang etwas in unserem Blog geschrieben. Es ist einfach immer zu viel los – „Ich komme zu nichts mehr!“ Ein Ausruf, den ich natürlich mit einem grossen Grinsen im Gesicht schon öfters von mir gab. 

Tonga („In einer anderen Welt“ – unser bislang letzter Artikel) verlassen wir Ende April Richtung Australien. Über Singapur sind wir nach Malaysia weiter gereist und ruhen uns inzwischen ein paar Tage auf einer Inselgruppe im südchinesischen Meer aus.

Dieser Zeitpunkt scheint geeignet, jenseits der vielzähligen äusseren Eindrücke einmal inne zu halten (also „stop“), um dann in sich hinein zu fühlen und sehen („look“), was diese Zeit bisher mit uns persönlich und aus uns als Paar gemacht hat:

Es liegt wohl in der Natur des Menschen, sich entweder Gedanken um Vergangenes oder Sorgen um die Zukunft zu machen. Wir verpassen das „Jetzt“, indem wir geistig ständig in einer anderen Zeit sind. So ging es auch mir. Es dauerte etwa drei bis vier Monate, bis ich das Gefühl hatte, wirklich „losgelassen“ zu haben. Die Gedanken an Vergangenes holten mich am Anfang der Reise manchmal noch ein und warfen mich wieder in das „Gestern“. Das Leben hält viele Lektionen bereit, nicht alle sind angenehm und sofort verständlich. Manchmal braucht es Zeit. Ich habe meine Entscheidungen getroffen, meine Lektionen gelernt und weiss, dass sich ein weiterer Blick zurück nicht lohnt. Nun geht es um das „Heute“ und ich bin nun hier angekommen. Das ist ein wunderbar befreiendes Gefühl.

Und was wird die Zukunft bringen? Manchmal erwische ich mich mit diesem Gedanken und den möglichen Szenarien. Besonders nach den Ruhephasen an den Stränden Tongas und Malaysias möchte ich am liebsten loslegen und wieder an einem Projekt arbeiten, es zu einem Erfolg bringen und dafür auch Anerkennung von aussen bekommen. Ich brauche das. Allerdings weiss ich noch nicht, welches Projekt dies sein mag. Aber ich habe gelernt, dass sich Lücken immer schliessen werden und sich Freiräume füllen, sobald die richtige Zeit und der passende Ort dafür da ist. Dieses Wissen gibt mir die Ruhe und die Zuversicht, dass diese Projekte schon kommen werden und ich mich am Ende der Reise für das Richtige entscheiden werde. Vorerst geniessen wir diese gemeinsame Zeit im „Jetzt“ und „Hier“. 

Jana und ich hatten vor unserer Reise eine eineinhalbjährige Fernbeziehung. Diese Zeit war intensiv und von grosser Leidenschaft, Vertrauen und Glücksgefühlen geprägt. Täglich haben wir über Skype telefoniert. Jeder wusste wie es dem anderen geht und was ihn bewegte. Trotz grosser geografischer Entfernung waren wir emotional und gedanklich miteinander verbunden. Nun sind wir gemeinsam in weiter Ferne von zu Hause und uns hier so nah, wie man sich näher kaum sein könnte. Ich freue mich unglaublich wie harmonisch und entspannt unsere Beziehung ist. Unsere Charaktere und unsere Werte stimmen zum grossen Teil überein. Das sich Gegensätze anziehen, mag für eine schnelle Affäre oder für eine Beziehung, in der jeder seinen eigenen Weg geht und man sich nur ab und zu trifft, stimmen, aber wer so wie wir jeden Tag so viel Zeit miteinander verbringt, für den sind ausgeprägte Unterschiede im Verhalten und in der Einstellung eher von Nachteil. Denn das würde zu einer Achterbahn der Gefühle führen, auf der ich nicht fahren möchte.

Wir lernen uns anders und manchmal auch neu kennen. Ich habe Facetten an ihr entdeckt, die mich jeden Tag dankbar sein lassen, wie wundervoll diese Frau an meiner Seite ist. Ihr grosses Herz für alles was lebt, Ihr Engagement gegen Ignoranz und Gleichgültigkeit der Natur gegenüber schafft in mir Vertrauen und Zuversicht, die auch ich in Momenten der Unsicherheit brauche. Sie hilft mir damit, meinen inneren Kompass richtig zu justieren. Diese Facette hatte ich in unserer Fernbeziehung nicht so prägnant wahrgenommen. 

Für mich als Mann ist es besonders wichtig, das sie mir das Gefühl gibt, sie glücklich zu machen. Ihre Augen strahlen, wenn sie mich sieht. Jenseits aller guten Gespräche ist es das, was für mich zählt. Was will ich mehr?

Mit unseren individuellen Macken gehen wir mittlerweile gut um. Meine Koffeinsucht, die mich zwingt mindestens zwei Tassen Kaffee am Tag zu konsumieren war etwas, was Jana anfangs beäugte, dann akzeptierte und inzwischen danach fragt, ob ich nicht noch einen Cappuccino möchte. Anfangs wunderte ich mich über ihr drei-bis viermaliges tägliches Zähneputzen, habe mich aber nach einigen lustigen Kommentaren dem angeschlossen. Wir verbrauchen Unmengen an Zahnpasta, aber der angenehm frische Atem ist es mir wert.

Ich habe gelernt, das auch jeder Momente des Rückzugs vom Anderen braucht, was auf einer Reise zu zweit nicht immer einfach zu organisieren ist. Wir gehen keine getrennten Wege, sondern vielleicht nur jeder in ein anderes Museum oder verbringen mal einen Tag am Meer, während der andere eine Wanderung macht. Das reicht schon. 

Toll ist, das wir beide Freude daran haben, das „Kind“ in uns immer wieder heraus zu lassen. Wir blödeln rum, machen faxen und lachen oft über uns selbst.

Das Wichtigste ist jedoch, dass ich nun wieder ohne Trauer im Herzen lieben kann. Bevor ich Jana begegnete, erlebte ich eine tiefe Enttäuschung in meiner Ehe. Das zu verarbeiten und den Blick wieder nach vorn zu richten war kein leichter Weg. Danke Jana für Deine Geduld, Dein tiefes Vertrauen und Deine grosse Liebe zu mir. Ich glaube weiterhin an die Liebe. Das hat mir auch in schwierigen Momenten immer Kraft gegeben. Wahrscheinlich bin ich ein hoffnungsloser Romantiker oder einfach nur jemand, der nicht aufhören will daran zu glauben, das das Leben ein Geschenk ist und ich im Leben am meisten von dem bekomme, was ich selbst am stärksten bereit bin, zu geben.

Diese Reise wollte ich schon lange machen, ich habe viele Jahre dafür gespart und mich gedanklich darauf vorbereitet. Und dann lief mir Micha nur ein Jahr vor dem geplanten Abreisetermin wortwörtlich über den Weg. Ich erzählte ihm früh von meinen Plänen und zu meiner Verwunderung konnte er sich eine solche Reise auch für sich vorstellen. Der Gedanke, sie gemeinsam zu machen, war verrückt. Schließlich kannten wir uns zu dem Zeitpunkt kaum. Dennoch hatte ich bereits nach den ersten Treffen mit ihm, ein sehr gutes Gefühl bei der Vorstellung, meine Auszeit mit ihm gemeinsam zu verbringen. Es fühlte sich einfach richtig an. Die Zeit bis zum Abflug war trotz Fernbeziehung traumhaft. Ich war noch nie so verliebt und meine Freunde mögen mir meine zeitweise Grenzdebilität inklusive mein albernes Dauergrinsen verzeihen. Micha und ich besuchten uns alle zwei bis drei Wochen über das Wochenende, machten Ausflüge in die Umgebung und die Nacht zum Tag. Ein halbes Jahr vor der Abreise begannen wir mit der konkreten Umsetzung – Familie und Freunde einweihen, Wohnung und Job kündigen, Fahrräder kaufen und Flugtickets besorgen. 

Noch im Sommer 2018 radelte ich eine Woche durch Deutschland. Danach begannen die Knieschmerzen.

Alles war perfekt bis ich im September subtile Knieschmerzen beim Sport bekam. Diese Beschwerden schmälerten meine Vorfreude auf die Reise, ja sie liessen sogar ernste Zweifel an dieser aufkommen. Ich beschäftigte mich täglich mit meinem Knie, wollte unbedingt verstehen, woher diese Schmerzen kommen und viel wichtiger noch, wie ich sie wieder los werde. Da sich auch nach mehreren Arztbesuchen, Physiotherapie und Schonung keine wesentliche Besserung einstellte, beschlossen wir, die Reise zwar nicht abzusagen, aber sie ohne Fahrräder anzutreten. Es war die richtige Entscheidung. Zwar hatte ich in den ersten Monaten in Neuseeland noch Schmerzen nach einer Wanderung, aber sie waren nicht mehr so intensiv und eines Tages verschwanden sie komplett. Ich habe bis heute keine Ahnung, was dahinter steckt. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass das Schicksal dich oft auf die Probe stellt und dir im entscheidenen Moment eine Herausforderung schickt. Wie stark ist dein Wille, dein Ziel zu erreichen, wirklich? Gibst du es bei aufkommenden Hindernissen auf? Meine Knieschmerzen scheinen so eine Probe gewesen zu sein. Ich war mehrmals kurz davor, die Pläne unserer Auszeit hinzuschmeissen. Dadurch waren die letzten Monate vor Abflug eine sehr gefühlsintensive Zeit für mich, ein Härtetest für meine Nerven und ich lernte bereits damals meine erste wichtige Lektion dieser Auszeit.

Die Reise an sich verläuft bis jetzt sehr harmonisch und entspannt. Wir waren (ich klopfe auf Holz) noch in keiner gefährlichen Situation, haben nur kleine Kratzer oder mal einen Schnupfen abbekommen und können all das unternehmen, was wir wollen. An Michas Seite fühle ich mich richtig wohl und vollkommen sicher. Seine Statur und sein selbstbewusstes Auftreten lassen keine gaffenden Blicke (oder unangenehmeres) von fremden Männern aufkommen. Wer als Frau schon einmal ohne einen Mann in anderen Kulturen unterwegs war, weiss was ich meine.

Die gemeinsame Zeit empfinde ich als ein ganz besonderes Privileg. Waren wir vorher nur ein paar Tage im Monat zusammen, dürfen wir nun jeden Sonnenauf- und untergang miteinander verbringen. In dieser Phase der noch jungen Liebe ist dies ein ganz wunderbares Geschenk und ich bin sehr dankbar, dass wir diese Zeit so intensiv erleben können. Natürlich lernen wir uns auch noch besser kennen und ich staune, wie ähnlich wir bei vielen Themen denken. Das macht unsere Beziehung und das gemeinsame Reisen absolut unkompliziert – wir müssen kaum Kompromisse eingehen, denn meistens wollen wir beide dasselbe. Für mich wäre es unvorstellbar, eine solche Reise mit einem Menschen zu machen, der viele Situationen anders einschätzen würde und Prioritäten auf unterschiedliche Dinge legen würde. Das wäre viel zu anstrengend für mich und meinen Dickkopf. Dann würde ich lieber alleine reisen. Aber wenn es so gut passt, ist es zu zweit viel, viel schöner und lustiger (wie ihr unten sehen könnt).

An Michas Seite habe ich gelernt, auch mal loszulassen und nicht immer überall mit anpacken zu müssen. Das kannte ich aus früheren Beziehungen nicht und es war am Anfang sehr ungewohnt für mich. Wollte ich meinen Rucksack umschnallen, um ihn die Treppe hinaufzuschleppen, kam Micha mir jedesmal zuvor und schnappte mir die schwere Last vor der Nase weg. Ich musste erst lernen, dass er dies nicht macht, weil er glaubt, dass ich es nicht auch alleine tragen könnte, sondern weil es seinem Rollenverständnis entspricht. Männer sollten ihren Frauen schwere Dinge zum Tragen abnehmen. Diese Einstellung schätze ich mittlerweile sehr an ihm.

Micha sieht und akzeptiert unsere jeweiligen Stärken und er überlässt mir das Feld in Dingen, die ich besser oder schneller kann. Zum Beispiel orientiere ich mich an fremden Orten schneller und ich filtere aus einer grossen Menge von Informationen recht einfach das Wesentliche heraus. Dafür übernimmt er gerne die Aufgaben, die mir schwerer fallen oder auf die ich weniger Lust habe. Wie dankbar bin ich, dass er die insgesamt über 5.000 km in den Campervans gefahren ist und ich mich ganz dem Geniessen der Landschaft widmen konnte. Weil ich jahrelang immer selbst am Steuer sass, bin ich noch immer nicht die entspannteste Beifahrerin – aber ich gebe mir wirklich Mühe und ich hoffe, schon ein bisschen weniger schreckhaft zu sein.

War ich froh, dass ich dieses Vehikel nicht steuern musste. Wir tauften es „Das lange Elend“ – unser Gefährt in Australien.

Was ich ausserdem an unserer Beziehung schätze, ist unsere gemeinsame Neugier auf das Leben. Wir sind beide aufgeschlossen und daran interessiert, neue Erfahrungen zu machen. Micha ist ein Mann, der sich auf Neues einlässt und nicht von vornherein mit einem „Das ist nichts für mich.“ abblockt. Solche Menschen sind selten. Viel zu viele haben ein starres Bild von der Welt und vor allem von sich selbst. Was wir nicht können, das können wir lernen. Und wenn es doch nicht klappt, dann haben wir es auf jeden Fall versucht.

Nach bestandener Prüfung für den Tauchschein. Wir haben es probiert, es hat geklappt und macht Spass.

Und deshalb kommt von mir nun zum Schluss ein Gedanke zu dem dritten Wort in unserem Blogtitel („Choose“). Hatte ich kurz vor dem Antritt der Reise aufgrund meiner Knieprobleme noch Zweifel an diesem Abenteuer, so entscheide ich mich jetzt mit einem lauten und kräftigen „JA“ für die zweite gemeinsame Halbzeit der Reise. Die Schmerzen sind weg, das bisher Erlebte wunderschön und es ist nicht mehr nur das gute Gefühl, es ist nun das Wissen, dass ich mit Micha den besten Mann an meiner Seite habe – für den Rest dieser Reise und noch weit darüber hinaus.

Stop Look Choose

Micha & Jana

Nach eineinhalb Jahren Fernbeziehung mit einer Distanz von 688km zwischen uns wäre es an der Zeit zusammenzuziehen oder…..zusammen zu reisen.
Wir entschieden uns erstmal für´s Letztere. 

Ein „Work und Travel“ sollte es sein – wir arbeiten ein paar Wochen in einem fremden Land und bereisen dieses dann mit dem verdienten Geld. Da wir jedoch die vorgeschriebene Altersgrenze von max. 30 Lebensjahren deutlich überschritten haben, interpretieren wir das Konzept auf unsere Art neu. Immerhin kommen wir zusammen schon auf über 30 Jahre im Büro. Deshalb unser Motto: Erst die Arbeit, nun das Reisen – oder:

Stop Look Choose

Wie reisen wir?

Unsere Art des Reisens ist schlicht. Ursprünglich hatten wir die Idee, das Jahr auf dem Fahrrad zu verbringen. Wir hatten alles dafür vorbereitet und ausgerichtet – neue Reiseräder und Packtaschen gekauft, Flickkurse und ein GPS- Training absolviert und unsere Route danach ausgerichtet. Mysteriöse Knieprobleme bei Jana haben uns dann zwei Monate vor Beginn der Reise umdisponieren lassen. Nun musste alles schnell gehen – wir brauchten Rucksäcke und eine Idee, wie wir nun ohne die Drahtesel von A nach B kommen. Ehrlich gesagt, glaube ich, dass dies ein „Schicksalswink“ war. Allein die hügelige bis bergige Landschaft auf unserer ersten Station – Neuseeland – hätte uns doch, trotz sportlicher Vorbereitung, vor grosse Herausforderungen gestellt.

Wir sind nun mit dem Bus, der Bahn, sonstigen öffentlichen Verkehrsmitteln, sowie später auch gemieteten Camper Vans unterwegs. Ach, und wir werden uns mal als Tramper versuchen. Übernachten werden wir in AirBnB-Wohnungen, auf Zeltplätzen, in Hostels oder im Auto.

Orte, Menschen und Eindrücke 

Gestartet sind wir am 10.01.2019 in Frankfurt. Nach einem zehnstündigen Zwischenstopp in HongKong, haben wir am 12.01.2019 Auckland, die mit 1,7 Mio. Einwohnern grössten Stadt Neuseelands, erreicht.

Tradition und Moderne in HongKong. Im Hintergrund unter anderem das muschelförmige Kongresszentrum.

Die ersten Nächte verbrachten wir in einer zu einem Gästehaus umgebauten ehemaligen Garage im Stadtteil Mount Eden, einer wegen seiner kleinteiligen Einfamilienhausbebauung sehr beliebten Wohngegend. 

Blick vom Mount Eden: Auckland mit dem 328 Meter hohen Skytower

Auf ein Bier mit Nicole

In dieser Zeit trafen wir uns mit Nicole, einer 25 Jahre alten Auckländerin auf ein Feierabendbier in einem Pub bei uns um die Ecke. Sie ist eine ehemalige Kollegin von Jana und kam im Alter von 5 Jahren nach Neuseeland. So wie sie scheinen viele der Menschen hier keine gebürtigen KIWIS zu sein. Sie ist offen und freundlich, lacht viel – diese Eigenschaften liessen sich auf die meisten Einwohner hier übertragen.

Am meisten schätzt sie an ihrer Heimat das Gemeinschafts- und Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen den Menschen. „Natürlich gibt es Reiche, sie zeigen es aber nicht so. ,The Purpose` ist den Menschen hier wichtiger als das Geld; in Sydney zählt das Geld.“

Sie hat einen Bachelor in Jura und Wirtschaft. Um Studieren zu können, hat sie ein Studiendarlehen vom Staat erhalten, welches sie mit etwa 10 Prozent des verfügbaren Gehalts zurückzahlt. In ihrer Generation ist es normal, das sie sich mit ihren Kollegen über die Höhe der Gehälter austauscht. Das hat dafür gesorgt, dass das Gehalt ihrer Kollegen, die stark unterdurchschnittlich vergütet wurden, aufgestockt wurde. Ich stelle mir vor, welche überraschten Gesichter mich in Deutschland bei einem solchen Vorschlag anschauen würden.

Nicole spricht davon, das viele Kiwis das sogenannte ,Tall-Poppy`Syndrom verinnerlicht haben. Das bedeutet soviel, wie „alle sind gut, keiner ist besser“ . Die Herkunft soll auf den griechischen Philosoph Aristoteles zurückgehen, der behauptete, das man die grösseren Sprösslinge der Mohnpflanzen (Poppy) abschneiden müsse, damit alle in der gleichen Grösse heranwachsen und es keine herausragenden „Superpflanzen“ gibt. Das bedeutet nicht , das es in Neuseeland keine reichen oder extrem erfolgreichen Leute gibt. Diesen Leuten wird ihr Ruhm nur dann gegönnt, wenn sie sich weiterhin als Teil vom arbeitenden Volk` ansehen und sich nicht selbst öffentlich in eine höhere, bessere Kategorie heben.

Sie hat uns über einen kleinen Umweg auf den Mount Eden zu unserem Quartier gefahren. Angesprochen auf die ersten Tage, in denen es sehr viel geregnet hat, schmunzelte sie nur: „in Auckland ist es möglich, alle 4 Jahreszeiten an einem Tag zu erleben“. Das kam mir aus meiner norddeutschen Heimat sehr vertraut vor. Von Heimweh also keine Spur.

Da wir noch zwei Tage in Auckland verlängern wollten, blieb uns bei unserem geplanten Budget nur das Hostel in zentraler Lage. Die Scheiben am Ein-und Ausgang waren so sauber, das ich erstmal mit ordentlich Schwung dagegen lief. Besorgte Gesichter schauten mich an. Ich sollte mich hinsetzten und mir wurde sofort ein Glas Wasser gebracht. Nachdem ich versicherte, dass es mir gut geht und wir feststellten, dass die Scheibe auch keinen Schaden erlitten hat, musste alle erstmal herzhaft lachen.

Treffen mit Mike

Am Tag vor unserer Weiterreise traf ich mich mit Mike, dem Membership Manager der Royal Institution of Chartered Surveyors (RICS) New Zealand, einer internationalen Berufsvereinigung von Immobilienfachleuten. Ich nehme meine Interessen natürlich mit auf unsere Reise.

Wir treffen uns in seinem Büro auf einen Cappuccino. Mike ist 62 Jahre alt, gebürtiger KIWI und sieht entspannt, freundlich und dadurch viel jünger aus. Er ist 40 Jahre verheiratet, hat zwei Kinder und lebt auf der anderen Seite der über einen Kilometer langen Harbour Bridge. Er benötigt rund 40 Minuten „one way“ für seinen Arbeitsweg. Mike wirkt sehr zufrieden, wie überhaupt die meisten Menschen, denen wir hier begegnen. Er fährt gern Fahrrad und liebt es, E-Gitarre zu spielen. Zusammen mit einem Freund (der Akustik-Gitarre spielt) tritt er in Bars auf und singt gerne Songs von „The Eagles“.

Die RICS hat in Neuseeland aktuell über 500 Mitglieder und um die 200 Kandidaten, die es werden wollen. Mike spricht davon, dass sich seit etwa 1945 die Immobilienpreise in Auckland durchschnittlich alle 10 Jahre verdoppelt und in den letzten 15 Jahren sogar verdreifacht hätten. Das ist selbst im Vergleich zu den mir bekannten Entwicklungen auf den deutschen oder niederländischen Märkten in den letzten Jahren noch einmal ein anderes Kaliber. Insbesondere aus Asien kamen in dieser Zeit viele Zuwanderer. Auf Grund dieser Entwicklungen ist seit letztem Jahr der Erwerb von Grundstücken für Ausländer nur noch eingeschränkt möglich.

Sein Rat an junge Menschen: „Geht für raus in die Welt, sammelt dort Erfahrungen und bringt diese in der Heimat wieder ein“. Das erinnert mich an ein Zitat von Alexander von Humboldt, welches ich kürzlich las: „Die gefährlichste aller Weltanschauungen ist die Weltanschauung der Leute, welche die Welt nicht angeschaut haben.“

Das Immobiliengeschäft folgt hier natürlich den gleichen Mechanismen wie zuhause. Ich hatte das Gefühl, das es hier eine unglaubliche Zuversicht für den Berufsstand und die Märkte gibt. Krisen scheinen zumindest in der Mentalität der Marktteilnehmer hier keine Furchen hinterlassen zu haben.